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Krise in Grossbritannien: Es droht der Winter-Kollaps

Boris Johnson und die UK-Flagge
Premierminister Boris Johnson und sein Land stehen vor einer rauhen Zeit.Bild: shutterstock/keystone/watson

Krise in Grossbritannien: Es droht der Winter-Kollaps

Kein Benzin an den Tankstellen, leere Supermarktregale, die Corona-Infektionszahlen explodieren: Grossbritannien wird zunehmend von Krisen in die Zange genommen. Die Angst vor dem Winter-Chaos wächst.
21.10.2021, 15:5222.10.2021, 16:39
Patrick Diekmann / t-online
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t-online

Der Schock sitzt in Grossbritannien noch immer tief. Am vergangenen Freitag stach ein Mann in einer Bürgersprechstunde mehrfach auf den konservativen Politiker David Amess ein, der Politiker wurde brutal getötet. Das Tatmotiv war offenbar islamistischer Terror, Amess ist laut Polizei ein zufälliges Opfer des Täters gewesen. Ein Schock für das ganze Land und für seine Familie. Amess hinterlässt eine Frau und fünf Kinder.

Diese Bluttat wird Grossbritannien verändern, seither tobt auf der Insel eine Debatte über die Sicherheit von Politikern. Immer wieder erhalten britische Abgeordnete Morddrohungen, in den vergangenen Jahren stieg die Zahl rasant an. Auch Amess bekam kurz vor dem Mord Drohungen, neben seinem Bett hatte er einen Sicherheitsknopf installiert. Trotzdem hielt er an seinen Bürgersprechstunden fest, eine wichtige britische Tradition, um als Politiker mit den Bürgern in Kontakt zu kommen.

Members of the Anglo-Iranian communities and supporters of the National Council of Resistance of Iran hold a memorial service for British MP David Amess outside the Houses of Parliament in London, Mon ...
David Amess wurde am 15. Oktober getötet.Bild: keystone

Eben diese Bürgerkontakte werden für Politiker immer gefährlicher, Abgeordnete berichteten in den vergangenen Jahren über eine massive Zunahme der Drohungen gegen sie: Die britische Gesellschaft ist noch immer gespalten, viele Menschen sind wütend. Die Folgen des EU-Austrittes wurden in den vergangenen Monaten immer katastrophaler. Zu dem wirtschaftlichen Übel steigen auch die Corona-Infektionen rasant an, die Sorge in der Bevölkerung vor erneuten Einschränkungen wächst.

Dabei versprach Premierminister Boris Johnson den Briten ein neues goldenes Zeitalter nach dem Brexit. Nun aber gibt es immer mehr Menschen in seinem Land, die sich von den Brexiteers betrogen fühlen. Im kommenden Winter droht der Kollaps, das gegenwärtige Chaos droht sich zu verschärfen. Und der Premier scheint zunehmend die Kontrolle zu verlieren.

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Kein Treibstoff an dieser Tankstelle.Bild: keystone

Wirtschaftliche Verwundbarkeit nach dem Brexit

Die versprochene Brexit-Utopie ist für zahlreiche Briten mittlerweile zur Dystopie geworden. Wütende Autofahrer ringen um Kraftstoff, es fehlt an Nahrungsmitteln in den Supermärkten, besonders Fleisch wird knapp. Der Mangel an Lastwagenfahrer führt zur Lähmung ganzer Wertschöpfungsketten: Hühner und Schweine sitzen auf Farmen fest, weil es an Betäubungsmitteln und an Personal für die Verarbeitung fehlt. Läden müssen schliessen, weil sie keine Lieferungen mehr bekommen. Auch beispielsweise Nachtclubs haben Problem, es fehlt ihnen an Türstehern.

Die wirtschaftlichen Probleme bestimmen längst den Alltag der britischen Bevölkerung. Die Preise für viele europäischen Importe sind massiv gestiegen, die Heizkosten haben sich fast verdoppelt. Laut einer britischen Wohltätigkeitsorganisation könnte das eine Million Haushalte dazu zwingen, sich im Winter auf Decken zu verlassen. Das Jahr, in dem Bevölkerung und Unternehmen die Vorteile eines freien, globalen Grossbritanniens kennenlernen sollten, ist für viele Menschen zum Albtraum geworden. 

Konkret rechnet das US-Nachrichtengruppe «Bloomberg» zwar immer noch mit einem Wirtschaftswachstum von 1.3 Prozent im vierten Quartal 2021, aber dafür mit einer Inflation von 3 Prozent bis Mitte 2022.

Viele Probleme, wenige Massnahmen

Boris Johnson versprach, dass sich die wirtschaftliche Situation bis Weihnachten verbessern wird, doch das ist mit bisherigen politischen Massnahmen der Regierung unwahrscheinlich.

Es gibt zahlreiche Probleme:

  • Im Oktober werden über 10'000 Arbeitsvisa für ausländische Lastwagenfahrer und Arbeiter in der Fleischindustrie vergeben werden. Die Zahl der fehlenden Lastwagenfahrer wird aber auf über 100'000 geschätzt und die Visa sind nur bis Februar 2022 gültig. Ein kurzes Engagement ist für viele ausländische Arbeitskräfte wenig attraktiv
  • Die Forderung der britischen Regierung, dass nun Firmen nicht mehr billige Arbeitskräfte aus dem Ausland beschäftigen, klingt für viele Unternehmer kurzfristig wie blanker Hohn. «Zu sagen, dass wir eine gut bezahlte und gut ausgebildete Volkswirtschaft brauchen, ist gut», erklärt Nigel Upson, Geschäftsführer eines Geflügelbetriebs, dem Nachrichtenmagazin «Der Spiegel». Aber welche Qualifikation braucht man, um Hühnchen in eine Box zu stopfen?
  • Die britischen Versorgungslinien erweisen sich nach dem Brexit als kompliziert und teuer. Der Transport einer LKW-Ladung Kühlschränke aus Italien nach Grossbritannien kostet beispielsweise fast 25 Prozent mehr als vor dem Brexit.
  • Lieferungen in das Königreich werden ab dem 1. Januar 2022 neuen Zollkontrollen an der Grenzen zur Europäischen Union ausgesetzt. Ab Juli 2022 gelten für Lebensmittelprodukte verschärfte bürokratische Vorschriften und Kontrollen.

Eine fehlende Debatte über die Brexit-Folgen verärgert in Grossbritannien immer mehr Menschen. «Was passiert, wenn ein Wendepunkt erreicht ist und die Tatsache, dass Menschen betrogen wurden, unausweichlich wird?», fragt der Journalist John Harris in einer Kolumne für die britische Zeitung «The Guardian».

Doch im Angesicht dieser Probleme agiert die britische Regierung nur vorsichtig. Premierminister Johnson hält an seinem Brexit-Narrativ fest, eine zu laute Kritik am britischen EU-Austritt gilt in seinem Kabinett als unerwünscht. Es ist nicht das erste Mal, dass Johnson ein Problem dieser Dimension zunächst nicht ernst genug zu nehmen scheint.

Vorsprung beim Impfen verspielt

Auch auf den Beginn der Corona-Pandemie reagierte der Premierminister zögerlich. Er wollte die wirtschaftliche Entwicklung des Landes nicht gefährden, in dem er einen Lockdown verhängt. Bislang forderte das Virus knapp 140'000 Todesopfer.

Danach zündete Grossbritannien den Impfturbo, schnell waren mehr als 60 Prozent der Bevölkerung geimpft und die Regierung feierte ihren «Freedom Day» am 19. Juli – dem Ende aller Corona-Massnahmen – und beispielsweise auch das Finale der Fussball-Europameisterschaft im Sommer.

People dance shortly after the reopening, at The Piano Works in Farringdon, in London, Monday, July 19, 2021. Thousands of young people plan to dance the night away at 'Freedom Day' parties  ...
«Freedom Day»: In der Londoner Bar «The Piano Works» wird am 19. July gefeiert.Bild: keystone

Doch das Land verspielte seinen Vorsprung im Kampf gegen die Pandemie. Mittlerweile ist die Quote der vollständig Geimpften noch vier Prozentpunkte vor dem der Schweiz, aber der frühere Impfstart auf der Insel macht eigentlich auch frühe Auffrischungen der Immunisierungen erforderlich. Dort liegt das Problem: Erst 41 Prozent derjenigen, die vor mehr als sechs Monaten ihre zweite Impfung erhielten, wurde bisher ein weiteres Mal geimpft.

Neue Corona-Variante im Land unter Beobachtung

Mittlerweile hat Grossbritannien wieder eine Sieben-Tage-Inzidenz von über 450, viele Covid-19-Erkrankungen haben zwar milde Verläufe, aber durch die hohe Anzahl der Neuinfektionen steht das Gesundheitssystem erneut an der Belastungsgrenze. Zuletzt wurden bis zu knapp 50'000 tägliche Neuinfektionen registriert. Die Zahl der täglichen Krankenhauseinweisungen liegt bei fast 1'000. Bei den Todesfällen wurde am Dienstag mit 223 gemeldeten Fällen ein Stand wie zuletzt im März erreicht.

Der britische Gesundheitsminister Sajid Javid warnte in einer Pressekonferenz, dass die Zahl der täglichen Neuinfektionen sogar bis auf 100'000 steigen könnte. Mit Blick auf den Winter schlagen britische Krankenhäuser Alarm.

Hinzukommt, dass Forscher aktuell eine weitere Corona-Variante im Land beobachten. Man habe die Mutante namens AY4.2 sehr genau im Blick, hiess es in dieser Woche aus dem Regierungssitz Downing Street. Die Variante weist zwei Mutationen auf, die bereits von anderen Versionen des Coronavirus bekannt seien.

Britain's Health Secretary Sajid Javid speaks during a media briefing in Downing Street, London, Wednesday, Oct. 20, 2021. The U.K. recorded almost 50,000 new infections in a single day this week ...
Sajid Javid stellt die aktuellen Corona-Zahlen vor: Der Gesundheitsminister warnt vor einem weiteren Anstieg der Neuinfektionen.Bild: keystone

Forscher gehen jedoch bislang nicht davon aus, dass die Variante deutlich ansteckender sein könnte als die bisherige Delta-Variante – die Rede ist ersten Schätzungen zufolge von einer möglicherweise zehn Prozent höheren Übertragbarkeit. Dies könne höchstens eine kleine Anzahl an zusätzlichen Corona-Fällen ausgelöst haben, meinte der Biologe Francois Balloux vom University College London. «Das kann nicht der Grund für den aktuellen Anstieg der Fallzahlen in Grossbritannien gewesen sein.»

Johnsons «Plan B»

Doch unabhängig vom Auslöser der aktuellen Corona-Welle weigert sich die britische Regierung, Gegenmassnahmen zu ergreifen. Es sei «zum jetzigen Zeitpunkt» noch zu früh, um eine Rückkehr der im Juli abgeschafften Corona-Regeln im grössten Landesteil England zu rechtfertigen, sagte Gesundheitsminister Javid.

Es gibt allerdings auch einen sogenannten «Plan B», wenn die Regierung sich doch zum Handeln gezwungen sieht: Dazu gehören Massnahmen wie verpflichtendes Maskentragen oder Nachweispflicht von Impfungen bei Grossveranstaltungen. Trotz Forderungen aus Medizin und Wissenschaft sei das entscheidende Kriterium eines unaushaltbaren Drucks auf den Nationalen Gesundheitsdienst NHS noch nicht erreicht, erklärte Javid. Stattdessen sollten nun die Bemühungen verstärkt werden, so viele Menschen wie möglich zu impfen. Besonders bei Jugendlichen und älteren Menschen, die eine Auffrischungsimpfung erhalten sollen, stockt das britische Impfprogramm derzeit.

Wie auch in der wirtschaftlichen Krise nach dem Brexit wird es in der Corona-Pandemie für Grossbritannien zum Problem, dass die britische Regierung vehement eine politische Agenda verfolgt, von der sie nur langsam im absoluten Notfall abweicht. Die Johnson-Administration steht für möglichst wenig Corona-Regeln und für einen Brexit als britische Erfolgsgeschichte – zur Realität passt das allerdings nicht. Damit riskiert der Premierminister nicht nur eine Katastrophe im kommenden Winter, sondern auch grosse Wut, die durch die gegenwärtige Not im Land ohnehin weiter genährt wird. Eine explosive Mischung. 

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111 Kommentare
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NochEinKommentar
21.10.2021 17:18registriert März 2019
Wir sollten jetzt nicht über die Engländer lachen! In der Schweiz gibt es Parteien und Gruppierungen die uns in die genau gleiche Schei.... reiten wollen, leider gibt es genug Menschen die immer wieder auf die Sprücheklopfer reinfallen.
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Jonaman
21.10.2021 16:30registriert Oktober 2017
Aber mit dem Freedom Day haben sie doch Corona beendet, wieso ist das immer noch ein Thema?
Und der Brexit verbessert doch die Lage der Engländer in jeder Beziehung, wieso will das die Bevölkerung denn einfach nicht einsehen?
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Yolo
21.10.2021 17:26registriert Mai 2015
Brexit bestellt, Brexit geliefert. 🤷🏼‍♀️
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