Vor zwei Jahren führte Premierminister Boris Johnson die britischen Konservativen zu einem überwältigenden Wahlsieg. Mit dem Slogan «Get Brexit Done» verschaffte er ihnen eine Mehrheit von 79 Sitzen im Unterhaus. Der Austritt aus der EU ist seit Beginn dieses Jahres definitiv vollzogen, doch die «Nachwehen» sind keineswegs ausgestanden.
Leere Regale in den Supermärkten, fehlende Arbeitskräfte vor allem aus Osteuropa und der ungelöste Streit um den «Status» von Nordirland dürften die Briten noch lange beschäftigen. Das ist jedoch nicht der Hauptgrund, warum Johnson zunehmend in Bedrängnis gerät. Seine Popularität bröckelt, und auch in den eigenen Reihen wächst der Unmut über den Premier.
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'Tory Covid rebels deal hammer blow to Johnson's authority'#TomorrowsPapersToday
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Am Dienstagabend entlud er sich im Unterhaus in einer Revolte bei der Abstimmung über neue Massnahmen zur Eindämmung der Corona-Pandemie. Johnson wollte sie vermeiden und den «Freedom Day» vom 19. Juli in England zumindest bis Weihnachten durchziehen. Die sich rasant ausbreitende Omikron-Variante aber durchkreuzte dieses Kalkül.
Während die Maskenpflicht noch relativ problemlos durchging, entlud sich der Frust in weiten Teilen der Tory-Fraktion beim Covid-Pass, der für das Nachtleben und grössere Veranstaltungen obligatorisch werden soll. Im Vorfeld war mit bis zu 80 Abweichlern gerechnet worden. Am Ende stimmten 99 Konservative gegen das britische Zertifikat.
Damit hatte Boris Johnson keine eigene Mehrheit. Er war auf die Labour-Opposition angewiesen, die aus «patriotischer Pflicht» für den Covid-Pass votierte. Die Reaktionen in den Medien waren heftig. Der «Daily Telegraph», für den BoJo einst als Journalist gearbeitet hatte, sprach von einem «Hammerschlag» der Tory-Rebellen gegen Johnsons Autorität.
Der Regierungschef erlebt gerade seine schlimmste Woche, seit er vor zweieinhalb Jahren die Nachfolge der glücklosen, am Brexit gescheiterten Theresa May antrat. In den Umfragen hat Labour die Tories überholt, auch weil Johnson nicht nur mit einer internen Revolte konfrontiert ist, sondern sich auch mit diversen Skandalen herumschlagen muss.
Boris Johnsons lockerer Umgang mit der Wahrheit ist keine neue Erkenntnis. Das britische Wahlvolk hat ihm dies lange nachgesehen. Es mochte ihn, gerade weil er alles – auch sich selbst – nicht so ernst nahm und «anders» war. Darin erinnert er an Donald Trump, einfach ohne Wutbürgertum. Doch nun droht er die Gunst der Wählerinnen und Wähler zu verlieren.
Der Härtetest folgt schon am Donnerstag, bei einer Unterhaus-Nachwahl in North Shropshire an der Grenze zu Wales. Der bisherige Abgeordnete Owen Paterson musste nach einem Lobbying-Skandal zurücktreten. Der Wahlkreis war bisher eine fast uneinnehmbare Tory-Hochburg, doch nun könnte er an die Liberaldemokraten gehen.
Der Verlust dieses Sitzes würde Johnsons Autorität zusätzlich untergraben. Trotzdem muss der Blondschopf zumindest vorläufig kaum eine Absetzung durch seine Partei befürchten. Mögliche Nachfolger wie Aussenministerin Liz Truss, eine bei der Basis beliebte Hardlinerin, oder der eher pragmatische Schatzkanzler Rishi Sunak halten sich noch zurück.
Viele der Rebellen vom Dienstag hatten nicht den Regierungschef persönlich im Visier. Sie folgten ihren libertären Reflexen und äusserten ihren Frust über die scheinbar endlose Pandemie und ihre Folgen für die Wirtschaft oder den Staatshaushalt. Sie fordern, dass die Regierung eine Strategie entwickelt, wie sie mit dieser Herausforderung umgehen will.
Ein nicht näher umschriebener Insider äusserte gegenüber der BBC-Politikchefin Laura Kuenssberg sogar die Hoffnung auf eine Niederlage der Tories bei der Nachwahl am Donnerstag. Es wäre eine «Schocktherapie» für Downing Street und «ein echter Tritt in den Hintern, damit sie erkennen, dass dies ein sehr, sehr grosses Problem ist».
Das Coronavirus hat allerdings die unangenehme Eigenschaft, dass es sich nichts vorschreiben lässt. Und mit Omikron droht ein veritabler Tsunami. Britische Experten warnten vor bis zu einer Million Infektionen pro Tag. Selbst bei einem tendenziell milderen Krankheitsverlauf würde dies das Gesundheitswesen an den Anschlag bringen.
Boris Johnson will die Booster-Impfungen massiv beschleunigen. Dennoch könnte er gezwungen sein, wieder jene Lockdowns zu verordnen, die seine Partei keinesfalls mehr akzeptieren will. Auch dafür bräuchte er wohl die Hilfe von Labour. Für den Moment darf man den Premierminister nicht abschreiben. Aber die Konservativen könnten irgendwann zum Schluss kommen: enough is enough!