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Grossbritannien

Gericht: Archie darf nicht zum Sterben in Hospiz verlegt werden

Archie ist verstorben – «er hat bis zum Schluss gekämpft»

06.08.2022, 15:3507.08.2022, 17:41
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Die Eltern verbrachten nach monatelangem Kampf letzte wertvolle Stunden mit ihrem Sohn, dann erlosch auch der letzte Funke Hoffnung: In einem Londoner Krankenhaus sind die Geräte abgestellt worden, die den seit Monaten im tiefen Koma liegenden Jungen Archie am Leben gehalten hatten. Der Zwölfjährige starb am Samstag um 12.15 Uhr (Ortszeit), wie seine Mutter Hollie Dance vor dem Krankenhaus bekanntgab. «Er hat bis zum Schluss gekämpft. Ich bin so stolz, seine Mutter zu sein.»

Archie lag seit April im Koma. Bei einem Unfall zu Hause in Southend-on-Sea rund 60 Kilometer östlich von London hatte er sich schwere Hirnverletzungen zugezogen, womöglich bei einer Internet-Mutprobe. Die behandelnden Ärzte sahen keine Chance auf eine Genesung. Im Royal London Hospital wurde er unter anderem mit Beatmungsgeräten und Medikamenten am Leben gehalten.

The parents of Archie Battersbee, Paul Battersbee and Hollie Dance, speak to the media outside the Royal London hospital in Whitechapel, east London, Tuesday Aug. 2, 2022. Archie Battersbee, 12, was f ...
Paul Battersbee und Hollie Dance, die Eltern von Archie, hier am 2. August 2022.Bild: keystone

Die Eltern hatten rechtlich mit allen Kräften um ihren Sohn gekämpft - erst um sein Leben, dann um die Umstände seines Todes. Zuletzt wollten sie ihn vom Krankenhaus in ein Hospiz verlegen lassen, damit er seine letzten Stunden in einer ruhigeren, friedlicheren Umgebung erleben könnte. Entsprechende Anträge vor dem Berufungsgericht in London und beim Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) in Strassburg waren am Freitag jedoch gescheitert.

Das Krankenhaus hatte einen Umzug ins Hospiz zuvor abgelehnt - zu instabil sei der Zustand des Jungen, zu gross das Risiko, ihn in einem Krankenwagen zu transportieren. Auch das Londoner Berufungsgericht erklärte, es sei im besten Interesse des Jungen, die lebenserhaltenden Massnahmen im Krankenhaus statt in einer anderen Umgebung einzustellen. Das Gericht in Strassburg erklärte danach, der Antrag falle nicht in seinen Zuständigkeitsbereich.

Damit waren alle rechtlichen Möglichkeiten ausgeschöpft. «Ich habe alles getan, was ich meinem kleinen Jungen versprochen habe», sagte seine Mutter am Freitagabend dem Sender Sky News. Unter Tränen stellte sie fest, dass es nichts mehr gebe, was die Familie tun könne. Zu diesem Zeitpunkt wusste sie schon, dass das Krankenhaus die lebenserhaltenden Massnahmen am nächsten Vormittag beenden würde.

Nach Angaben seiner Familie wurden Archies Medikamente am Samstag um 10 Uhr abgesetzt, ehe zwei Stunden später die Beatmungsgeräte entfernt wurden. Ella Carter, die Verlobte von Archies älterem Bruder Tom, sagte heftig weinend an der Seite der Mutter: «Es ist absolut nichts Würdevolles daran, einem Familienmitglied oder einem Kind beim Ersticken zuzusehen. Keine Familie sollte das jemals durchmachen müssen, was wir durchgemacht haben. Es ist barbarisch.»

Hollie Dance, second left, surrounded by family and friends, outside the Royal London hospital addresses the media following the death of her 12 year old son Archie Battersbee, in Whitechapel, east Lo ...
Hollie Dance, die Mutter Archies, umgeben von Familie und Freunden.Bild: keystone

Der Krankenhausbetreiber Barts Health NHS Trust bestätigte, dass Archies Behandlung im Einklang mit den Gerichtsentscheidungen zu seinem Wohl eingestellt worden und er am Nachmittag verstorben sei. Familienangehörige seien am Krankenbett bei ihm gewesen. «Dieser tragische Fall hat nicht nur die Familie und seine Betreuer betroffen, sondern auch die Herzen vieler Menschen im ganzen Land berührt», erklärte der Chief Medical Officer, Alistair Chesser.

Die Anteilnahme für Archies Familie war in der Tat gross gewesen. Viele Menschen brachten am Samstag unter anderem Blumen zum Krankenhaus. An einer Statue vor dem Gebäude formten Kerzen zudem ein Herz, das eine Karte mit Archies Namen umrahmte.

Der Fall erinnert an ähnliche Auseinandersetzungen um unheilbar kranke Kinder in Grossbritannien. Der finanziell stark unter Druck stehende britische Gesundheitsdienst NHS neigt dazu, lebenserhaltende Massnahmen sehr viel früher zu entziehen, als das etwa in Deutschland der Fall wäre. Zudem werden die Wünsche von Eltern und Angehörigen dabei nicht im selben Masse berücksichtigt. Was im besten Sinne des Patienten ist, entscheiden oft Richter auf Empfehlung von Medizinern. (sda/dpa)

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75 Kommentare
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Die beliebtesten Kommentare
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mattoblue
05.08.2022 18:27registriert November 2019
Wieso wird dieses Foto von einem sterbenden Menschen veröffentlicht?
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Gulli
06.08.2022 17:02registriert September 2015
Möge er in Frieden ruhen
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Scrat
06.08.2022 10:41registriert Januar 2016
Wenn man sterben muss, sollte man dies in Würde und vor allem schmerzlos können. Der Ort ist dabei ziemlich irrelevant - die würdevolle Betreuung aber um so wichtiger. Manchmal sollte man als Angehöriger - auch wenn es schwer ist - einfach der Realität ins Auge sehen und zum Wohle des sterbenden Menschen einfach loslassen.
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