In Ihrem neuen Buch bezeichnen Sie die AfD als «sexbesessen». Wie kommen Sie zu dieser Einschätzung?
Daniela Rüther: Ich habe die parlamentarischen Aktivitäten der AfD für mein Buch analysiert und festgestellt, dass sie auffallend häufig Themen rund um Geschlecht, Sexualität und Geschlechterverhältnisse auf die Agenda setzt. Egal, ob es um Bevölkerungszahlen, Homosexualität, Transgeschlechtlichkeit oder das gesamte Themenfeld rund um Gender geht – diese Inhalte sind bei der AfD überproportional präsent. In der politischen Diskussion ist die AfD geradezu sexbesessen.
Woher kommt das?
Das hat eine lange Tradition. Bei jeder völkischen Bewegung zeigt sich, dass der ideologische Kern stark von Vorstellungen über Mutterschaft, Bevölkerungszahlen und eine hierarchische Zweigeschlechtlichkeit geprägt ist. Die patriarchale Familienvorstellung wird häufig mit der Idee der «Reinheit» eines Volkes verbunden. Das führt zwangsläufig dazu, dass diejenigen, die nicht dazugehören sollen, ausgegrenzt und ausgeschlossen werden. Diese Ideen sind über 100 Jahre alt und ziehen sich durch die gesamte völkische Ideologie.
Wie genau nimmt die AfD die Ideen der Nationalsozialisten auf?
Ein konkretes Beispiel sind Ehestandsdarlehen. Diese wurden 1933 von der NSDAP eingeführt und an junge Ehepaare vergeben. Die Ehefrau musste ihre Erwerbstätigkeit aufgeben, und das Darlehen konnte mit jedem geborenen Kind reduziert werden. Die AfD hat diese Idee mehrfach in deutsche Parlamente eingebracht und sie auch in ihr Wahlprogramm aufgenommen. Sie nennt es jetzt «Ehe-Start-Kredit». Mit jedem Kind wird ein Teil des Kredits erlassen, das Darlehen kann also «abgekindert» werden, ganz genau wie bei den Nazis.
Es scheint, «Sexbesessenheit» und Migrationskritik gehen hier Hand in Hand.
Die AfD verfolgt eine Doppelstrategie: Einerseits will sie die Geburtenrate in der deutschen Bevölkerung erhöhen, andererseits fordert sie eine restriktive Migrationspolitik. Die Partei suggeriert, dass Deutschland durch eine höhere Geburtenrate «echter» deutscher Bürgerinnen und Bürger dem demografischen Wandel entgegenwirken könne, während gleichzeitig Migranten aus dem Land gedrängt werden.
Elon Musk, der sich mehrfach für die AfD starkgemacht hat, ist Vater von 11 Kindern. Und sieht eine kommende Unterbevölkerung als Problem. Da scheinen zwei Ideologien sehr gut zusammenzupassen.
Ja, wobei er die Kinder aber zusammen mit verschiedenen Frauen hat und überhaupt nicht das Ideal der traditionellen Familie mit Vater, Mutter und mindestens drei Kindern lebt, wie es die AfD propagiert. Über solche Widersprüchlichkeiten schaut die Partei aber gerne grosszügig hinweg.
Alice Weidel, die Kanzlerkandidatin der AfD, lebt in einer gleichgeschlechtlichen Partnerschaft mit einer Schweizerin, die ursprünglich aus Sri Lanka stammt. Gemeinsam haben die beiden Frauen zwei Kinder. Wie geht das zusammen?
Das ist ein typisches Beispiel für die Widersprüchlichkeit dieser Partei. Weidel lehnt LGBTQ+-Rechte ab, obwohl sie selbst in einer gleichgeschlechtlichen Partnerschaft lebt. In Interviews behauptet sie sogar, nicht queer zu sein, obwohl sie mit einer Frau zusammenlebt. Das ist ein klassischer Fall von «Bullshitstrategie» – es geht nicht um Konsistenz, sondern darum, Verwirrung zu stiften.
«Bullshitstrategie»?
Der Philosoph Harry Frankfurt hat den Begriff «Bullshit» definiert als Äusserungen, die nicht vorrangig auf Wahrheit oder Lüge abzielen, sondern einzig darauf, eine politische Agenda durchzusetzen. Genau das tut die AfD. Sie arbeitet nicht ernsthaft in den Parlamenten mit, sondern nutzt sie als Propagandabühne. Ihre parlamentarischen Anfragen und Anträge dienen weniger der politischen Auseinandersetzung als vielmehr dazu, die Administration lahmzulegen und das System zu destabilisieren.
Mit Alice Weidel in Deutschland, Giorgia Meloni in Italien und Marine Le Pen in Frankreich werden die drei grössten europäischen rechtspopulistischen Parteien von Frauen angeführt. Ist das Zufall oder Folge der «Sexbesessenheit»?
Historisch betrachtet ist es nicht ungewöhnlich, dass Frauen in antifeministischen Bewegungen führende Rollen übernehmen. Schon im Kaiserreich und während des Nationalsozialismus gab es prominente Frauen, die sich gegen Frauenrechte engagierten. Diese Strategie kann auch eine bewusste Inszenierung sein: Frauen als Parteiführerinnen machen rechtspopulistische Parteien für bürgerliche Wähler attraktiver, indem sie ein moderateres und weniger radikales Image vermitteln.
Im linken Lager möchten viele die AfD gesetzlich verbieten. Werden sie da von allzu simplen Reizen verführt?
Ein Parteienverbot ist ein sehr schwieriges Thema. Denn ein gescheitertes Verbotsverfahren könnte der Partei zusätzlichen Auftrieb geben, weil sie sich dann in ihrer Opferrolle bestätigt fühlt. Ein weiteres Problem ist, dass sich rechtsextreme Parteien oft einfach umbenennen und unter neuem Namen weitermachen, wie es beispielsweise bei der NPD geschehen ist. Deshalb sollte man genau abwägen, ob ein Verbot das gewünschte Ziel wirklich erreicht oder ob andere Strategien effektiver sind, um die AfD politisch einzudämmen.
20 Prozent der Deutschen möchten am 23. Februar die AfD wählen. Wo sehen Sie den Sex-Appeal der AfD?
Die AfD hat eine Anziehungskraft auf Menschen, die sich von gesellschaftlichen Veränderungen bedroht fühlen – insbesondere Männer, die sich in ihrer traditionellen Rolle verunsichert sehen. Dieser «negative Sex-Appeal» entsteht durch das Schüren von Ängsten und Ressentiments. (bzbasel.ch)
Der Hass auf andere hat immer seinen Ursprung