Seit den frühen Morgenstunden dringen russische Truppen auf ukrainischem Gebiet vor. Bilder zeigen Flugzeuge und Helikopter, die strategische Ziele angreifen. Es gab Opfer in der ukrainischen Zivilbevölkerung und auch unter den Truppen beider Seiten.
Gerhard Mangott ist Professor der Politikwissenschaften an der Universität Innsbruck. Sein Spezialgebiet ist die Sicherheitspolitik der ehemals sowjetischen Gebiete. Er ist einer der gefragtesten Experten zur Ukraine-Krise.
Was geschieht im Moment in der Ukraine?
Russland setzt Gewalt ein, um die eigenen geopolitischen Ziele zu verfolgen. Die Ukraine soll entwaffnet und dem Einfluss des Westens entzogen werden.
Putins Interessen waren bekannt. Haben Sie erwartet, dass er diese auf so brutale Weise durchsetzen wird?
Nicht die konkrete Form. Aber nachdem die Verhandlungslösung gescheitert war, war zu erwarten, dass Putin seine Drohung, auch militärisch vorzugehen, wahrmachen würde. Die Anerkennung der Separatistengebiete war für ihn nicht genug. Damit waren nur Kosten verbunden. Eine Eskalation hatte sich abgezeichnet.
Was hat Putin vor?
Meines Erachtens wird er alles tun, um seine Ziele zu erreichen. Eine weitere Eskalation ist durchaus möglich. Die Ukraine ist nicht bereit, zu kapitulieren. Und Putin ist bereit, jeden Preis zu bezahlen.
Was kann die Ukraine tun?
Wenig. Sie ist militärisch unterlegen. Sie wird versuchen den Blutzoll für Russland so hoch wie möglich zu machen. Auch um die Meinungsbildung in der russischen Bevölkerung zu beeinflussen. Dort wird die Skepsis steigen, wenn plötzlich Tausende junger russischer Männer im Sarg zurück in die Heimat transportiert werden. Aber die Ukraine ist klar schwächer, sie wird verlieren. Sie kann nur den Preis dafür in die Höhe treiben.
Warum reagiert die Nato nicht und hilft der Ukraine?
Die Nato war immer ehrlich. Die Ukraine kann von dem Bündnis keinen militärischen Beistand erwarten. Eine direkte Konfrontation zwischen der Nato und Russland könnte zu einer nuklearen Eskalation führen. Putin hat in einer Rede auch verklausuliert mit der nuklearen Option gedroht.
Verklausuliert? Wie meinen Sie das?
Er hat das Wort «nuklear» nicht in den Mund genommen. Aber es war klar, was er meinte.
Manche Beobachter halten den russischen Präsidenten für übergeschnappt wegen seiner wirren TV-Auftritte. Wie verrückt ist Putin?
Ich glaube nicht, dass wir davon ausgehen können, dass er geistig verwirrt ist. Was eher zutrifft: Er lebt in seiner eigenen Informationswelt. Er erhält praktisch nur noch Informationen von Beratern, die sich nicht trauen, ihm zu widersprechen. Man könnte von einem Verlust des Blicks auf die Wirklichkeit sprechen.
Von der russischen Bevölkerung ist nicht bekannt, dass sie mit einem «Hurra!» in den Krieg ziehen will. Zudem ist der russische Aktienindex abgestürzt. Schadet Putin der Krieg innenpolitisch?
Der Krieg birgt für Putin ein innenpolitisches Risiko. Man muss das aber im Kontext der repressiven Regierungsführung der letzten Jahre sehen. Er vertrieb die Opposition ins Exil, politische Gegner wurden ermordet. Putin ist kategorisch gegen die Zivilgesellschaft vorgegangen. Er hat möglichen Widerstand gegen einen Krieg schon im Vorhinein ausgeschaltet.
Sie erwarten also keine Proteste gegen den Krieg?
Kleinere Proteste schon, Massenproteste aber nicht. Putin hat hohe Zustimmungsraten. Grosse Teile der Bevölkerung verhalten sich zudem apathisch. Sie nehmen seine Politik achselzuckend hin. Langfristig wird es aber mehr und mehr Leute geben, die ihm aussenpolitisches Abenteuertum vorwerfen.
Wie kommt man da wieder raus? Gibt es noch irgendeine Hoffnung auf eine Verhandlungslösung?
Der Verhandlungsprozess ist tot. Die Grundlage dafür ist weg. Der Westen wird Putin nun isolieren. Er wird zum Aussätzigen. Massive Sanktionen gegen Russland kommen, die Nato wird aufrüsten und ihre Präsenz im Osten verstärken - auch wenn das der Ukraine nicht helfen wird. Gegen den Vormarsch von Putin können die Nato-Staaten nichts tun. Es besteht eine gewisse Hilflosigkeit.
Was bedeutet das für das weltweite Sicherheitsgefüge? Nato-Generalsekretär Jens Stoltenberg spricht von einer historischen Wende.
Es ist eindeutig eine Zäsur. Es geht eine neue Teilungslinie durch Europa. Auf beiden Seiten wird nun militärisch hochgerüstet. Alles was man nach dem Fall der Berliner Mauer erwarte hatte, ein freies, ungeteiltes Europa, ist nun Geschichte. Wir befinden uns in einer neuen Lage. Einige sprechen vom neuen Kalten Krieg. Dazu fehlen aber noch einige historische Elemente. Man könnte die Situation eine neue Eiszeit nennen.
Was sollten neutrale Staaten wie die Schweiz tun?
Militärisch können sie als neutrale Staaten nichts tun. Sie sollten sich aber politisch klar äussern, Russland als Aggressor benennen und den eklatanten Bruch des Völkerrechts klar verurteilen.
Was bringen Sanktionen?
Die sind ja von Seiten der EU und den USA schon auf dem Weg. Jetzt werden sie wirklich hart ausfallen. Manche werden kurzfristig wirken, andere über Jahre. Man muss aber konstatieren: sie werden Putin nicht davon abbringen, seine Geopolitik militärisch durchzusetzen.
Sind wir also in Sackgasse? Wie kann die internationale Gemeinschaft der Ukraine noch helfen?
Die einzige Möglichkeit, die ich noch sehe, ist finanzielle Unterstützung der Ukraine. Die Kapitalflucht ist gross. Das Land wird wirtschaftliche Hilfe benötigen.
Wie ist Europa überhaupt in diesen Krieg geraten?
Zunächst einmal möchte ich festhalten, dass die russische Aggression, die wir jetzt sehen, durch nichts zu rechtfertigen ist. Wenn wir aber die Eskalation verstehen wollen, müssen wir die letzten 25 Jahre betrachten. Es wurden die falschen Weichen gestellt. Es gelang nicht, eine kooperative Sicherheitsstruktur in Europa zu installieren, die auch Russland einschliesst. Es war die Hybris des Westens, zu glauben, man könne sich ausbreiten, ohne auch die Interessen von Russland zu berücksichtigen. Russland hat immer klargemacht, was seine Sicherheitsbedürfnisse sind: keine weitere Ausweitung der Nato in den Osten. Das ändert aber nichts daran, dass es Russland ist, das das nun das Völkerrecht bricht.
Was ging konkret schief?
Die Nato beging einen fatalen Fehler, indem sie der Ukraine einen Beitritt zum Verteidigungsbündnis als Möglichkeit in Aussicht stellte. Für Russland wurde dadurch eine Rote Linie überschritten. Die Nato hat das Prinzip der offenen Tür für alle Länder verteidigt, obwohl sie das im Fall der Ukraine ohnehin nicht erfüllen wollte. Man hat ohne Not dieses abstrakte Prinzip verteidigt.
War denn Putin zuletzt noch ernsthaft an einer Verhandlungslösung interessiert?
Wir können nicht sagen, ob er an einen Erfolg der Verhandlungen geglaubt hat oder ob er von Anfang an deren Scheitern als Rechtfertigung nutzen wollte. Wenn es aber tatsächlich einen Willen gegeben haben sollte, hätte der Westen kreativer sein müssen. Er hätte Schritte vorschlagen müssen, um die Erfüllung wenigstens eines Teils seiner Forderungen in Aussicht zu stellen.
Eines der besten Interviews, die ich je gelesen habe.
Eine weitere Parallele zu Stalin.
Gut, ich hoffe auf eine zusätzliche Parallele. Putin ist 70 Jahre alt. Stalin wurde 74 Jahre alt. Also hoffe ich, dass Adolf Josef Putin in spätestens 4 Jahren Geschichte sein wird.
Die Medien müssen hier endlich Gegensteuer geben!
Die Nato hat sich nicht ausgebreitet, es waren die Osteuropäischen Staaten, welche um Aufnahme gebeten haben WEIL sie Angst vor Russland haben. Und wie die Ukraine zeigt, war diese Angst berechtigt. Wenn die baltischen Staaten nicht in der Nato wären, dann wären sie die nächsten Ziele.
Es liegt an Russland zu beweisen, dass es die Nachbarländer in Frieden leben lassen kann. Nicht umgekehrt!