Herr Vautravers, führt Russland einen offenen Krieg gegen die Ukraine oder nur gezielte Militärschläge, wie Wladimir Putin behauptet?
Alexandre Vautravers: Es gibt zwei Arten von bewaffneten Konflikten. Einen internationalen und einen nicht-internationalen. In diesem Fall handelt es sich um einen internationalen Konflikt im Sinne des Völkerrechts. Und das seit dem 21. Februar, als Russland die Unabhängigkeit der beiden abtrünnigen Republiken Donezk und Luhansk im Osten der Ukraine anerkannte.
Ist die Ukraine in der Lage, auf den russischen Angriff zu reagieren?
Hierzu ist ein kurzer Blick in die Geschichtsbücher hilfreich. Als der ukrainische Staat im September 1991 gegründet wurde, besass er 33 Prozent der Atomwaffen der implodierten Sowjetunion. Der junge ukrainische Staat besass damals auch einen Grossteil der Landstreitkräfte und fast die Hälfte der Schiffsflotte der ehemaligen UdSSR. Zwischen September und Dezember 1991 übten die Europäische Union und die Vereinigten Staaten von Amerika intensiven Druck auf die unabhängig gewordene Ukraine aus, auf ihre Atomwaffen zu verzichten. Was sie auch tat. Die ukrainischen Streitkräfte wurden daraufhin auf ein Minimum reduziert. Die Ukraine war 10 bis 15 Jahre lang der Musterschüler bei der europäischen Abrüstung und der Senkung der Militärausgaben, wobei durchschnittlich 0,7 Prozent des BIP in die Verteidigung investiert wurden (zum Vergleich: Russland 4 Prozent, Frankreich 2 Prozent).
Was bedeutet das?
Obwohl die Ukraine über drei professionelle Luftlande- und Marineinfanteriedivisionen verfügt, ist die überwiegende Mehrheit des ukrainischen Militärmaterials veraltet. Es stammt noch aus der Sowjetzeit. Die Modernisierung wurde nie wirklich abgeschlossen.
Wie steht es um die russischen Streitkräfte?
Zunächst sei daran erinnert, dass Russland, das über nukleare Abschreckung verfügt, keine Angst vor einer Invasion seines Territoriums hat. Daher wird ein Grossteil seiner militärischen Ressourcen, nämlich 70 Prozent seiner Landstreitkräfte, für die Operation in der Ukraine mobilisiert. Praktisch jede ihrer Divisionen, wo auch immer sie sich auf russischem Territorium befand, musste eine Bataillonseinheit für diese Operation zur Verfügung stellen. Dies entspricht etwa zwanzig erweiterten Bataillonen. Das ist eine ziemlich beträchtliche Streitmacht. Wir sprechen hier von 200'000 Mann.
Was könnte die Logik hinter dieser russischen Militäroperation sein?
Das einzige Gebot in einem solchen Moment ist, nicht das zu tun, was der Gegner von einem erwartet. Was man jedoch sagen kann, ist, dass Russland zwei militärische Optionen hat: entweder einen Sprint oder einen Marathon. Heute erleben wir einen russischen Sprint, bei dem mehrere Stunden lang eine intensive Serie von Luftangriffen sowie Angriffe mit Marschflugkörpern und Langstreckenartillerie auf ukrainische Kommandozentralen und andere neuralgische Punkte durchgeführt wurden. Eine der grössten Stärken der russischen Armee sind ihre strategischen Streitkräfte, also ihre Langstreckenbomber und Marschflugkörper. Russland ist nun in die zweite Phase eingetreten, in der vier Truppenverbände von Norden nach Süden vorstossen und die gesamte ukrainische Armee im gesamten Osten des Landes zu zerschlagen versuchen.
Wie steht es um die Zukunft der Ukraine?
Zwei Szenarien sind denkbar. Das erste Szenario, das sich derzeit abzeichnet, ist ein Auseinanderbrechen der Ukraine, mit einem Ostteil unter russischer Militärkontrolle, der einen neuen Staat mit eigenen Statuten bilden könnte. Und ein westlicher Teil, der pro-westlich ist. Aus geopolitischer Sicht wäre dies etwas, mit dem man arbeiten könnte.
So wie Deutschland während des Kalten Krieges in zwei Teile geteilt wurde?
Genau.
Was ist das zweite Szenario?
Das zweite, viel schlimmere Szenario ist die Implosion der Ukraine, bei der Russland die Kontrolle über das gesamte ukrainische Territorium übernehmen würde. Dies hätte Konsequenzen für die Nato.
Was für Konsequenzen?
Es gäbe überhaupt keinen Puffer mehr zwischen den Nato-Streitkräften und Russland. Es würden sich zwei antagonistische Mächte gegenüberstehen und eine direkte Front bilden.
Welche militärischen Optionen gibt es auf Seiten der Nato?
Die Nato-Streitkräfte sind sehr gross und einsatzbereit. Es handelt sich um etwa 15 Bataillonskampfgruppen. Das entspricht zahlenmässig fast dem, was auf russischer Seite eingesetzt wird. Qualitativ sind sie dem, was Russland besitzt, überlegen. Die Aufgabe dieser Streitkräfte besteht darin, die Nato-Grenzen zu sichern, sei es die Grenzen der baltischen Staaten oder die Grenzen Polens. Es geht nicht darum, in die Ukraine einzumarschieren oder der Ukraine militärischen Beistand zu leisten.
Polen, das an die Ukraine und das pro-russische Belarus grenzt, fordert die Anwendung von Artikel 4 des Nato-Vertrags. Was bedeutet dieser Artikel?
Artikel 4 sieht eine Abstimmung zwischen den Verbündeten vor, bei der militärische Optionen in Betracht gezogen werden. Dies ist nicht zu verwechseln mit Artikel 5, der beinhaltet, dass einem angegriffenen Nato-Mitglied Beistand geleistet wird. Die Ukraine, und das ist nur ein Teil der geopolitischen Herausforderung, ist aber kein Nato-Mitglied.
Ich persönlich frage mich einfach wie Herr Putin da wieder rauskommen will egal ob Sprint oder Marathon.
Diesen Schandfleck in seiner Biografie wird er nie wieder los. Er wird als der russische Präsident in die Geschichte eingehen welcher einen echten Bruderkrieg zu verantworten hat.
Er hat eigentlich schon verloren, egal was rauskommt.