Im zentralasiatischen Kasachstan kam es tagelang zu schweren Unruhen nach massiv gestiegenen Gaspreisen. In verschiedenen Städten und Regionen des Landes, vor allem in der Millionenstadt Almaty, gingen Menschen auf die Strasse. Diese Proteste wurden von der kasachischen Regierung niedergeschlagen. Insgesamt wurden dabei 26 Demonstrierende getötet, weitere 18 wurden verletzt, zudem gab es mehr als 3000 Festnahmen, wie der Fernsehsender Khabar 24 unter Berufung auf das Innenministerium vermeldete. Die kasachischen Behörden bestätigten ausserdem den Tod von 18 Polizisten und Sicherheitskräften.
Kasachstans Regierung bat das Militärbündnis OVKS um Hilfe, dessen Mitglieder Russland, Armenien, Belarus, Kirgistan und Tadschikistan auch sofort einschritten. Russland schickte beispielsweise Fallschirmjäger und Panzer in das südliche Nachbarland.
Am 7. Januar liess Präsident Tokajew verlauten, dass er der Polizei einen Schiessbefehl erteilt habe: «Ich habe den Befehl gegeben, ohne Vorwarnung tödliche Schüsse abzugeben», sagte er in einer Fernsehansprache. Noch kurz zuvor hat er erklärt, dass die Ordnung im Land weitgehend wiederhergestellt sei.
watson hat mit einem Experten über die Situation in Kasachstan gesprochen und ihn gefragt, wie die Lage derart schnell eskalieren konnte. Alexander Libman ist Professor für Politikwissenschaft mit Schwerpunkt Russland und Osteuropa an der Freien Universität in Berlin.
watson: Herr Libman, in Kasachstan ist es in mehreren Städten zu Unruhen gekommen. Was sind das für Menschen, die dort protestieren?
Alexander Libman: Es ist wirklich extrem kompliziert zu verstehen, wie diese Proteste sich entwickeln. Es gibt keine Figur, keine einzelne Person, die die Proteste vertritt. Sogar in Belarus zu den Präsidentschaftswahlen war dies anders. Dort waren die wichtigsten handelnden Akteure aus der Politik ausgeschlossen und trotzdem gab es wichtige Figuren. In Kasachstan wissen wir wirklich gar nicht, wer die Anführer sind, und deshalb wissen wir auch wirklich nicht genau, wer da protestiert.
Und was sind die Beweggründe der Demonstranten?
Ich würde vermuten, dass wir hier von zwei verschiedenen Arten von Protesten sprechen.
Und welche sind das?
Zum einen gibt es rein wirtschaftliche Proteste, die besonders in Westkasachstan stattfinden. Dort befinden sich traditionell die wichtigsten Zentren für Erdöl und Erdgas. Was aber jetzt die ganze Welt verfolgt, und was wir auch in den Nachrichten sehen, ist die südliche Stadt Almaty.
Und dort sind es nicht nur wirtschaftliche Gründe?
Das würde ich vermuten. Von dort kam sehr schnell die Forderung nach dem Rücktritt von Nursultan Nasarbajew. Es gibt eine grundsätzliche Unzufriedenheit mit dem Regime, die unter der städtischen Bevölkerung zu beobachten ist. Hier spielt auch die Tatsache eine Rolle, dass Kasachstan de facto zwei Staatsoberhäupter hatte, Nasarbajew und Tokajew. Diese Machtkonstruktion ist für das Land sehr ungewöhnlich.
Also sind es einerseits wirtschaftliche und andererseits politische Demonstrationen – aber warum löst der Gaspreisanstieg derartige Unruhen aus?
Es geht hier nicht nur um den Gaspreisanstieg, sondern auch um den Preisanstieg von Auto-Treibstoff. In Westkasachstan werden die Autos primär mit Flüssiggas angetrieben und da gab es innerhalb einer sehr kurzen Zeit fast eine Verdoppelung des Preises. Von den Transportpreisen sind ja auch alle anderen Preise abhängig.
Was bedeutet das für Kasachstan?
Es bedeutet, dass die Mobilität viel schwieriger wird. Es geht um deutlich mehr, als wir das hier in Deutschland wahrnehmen – wo man Autos mit Benzin betreibt, wo es verschiedene Heizmittel gibt. Kasachstan ist ein Teil der Welt, in dem mit Gas geheizt wird und mit Gas die Autos angetrieben werden. Man darf auch nicht vergessen: Im Westen und im Norden Kasachstans ist der Winter extrem kalt. Kasachstan ist das Zentrum Eurasiens, es herrscht ein kontinentales Klima. Gas ist in dem Sinne lebensnotwendig.
Und woran liegt es, dass der Gaspreis so angestiegen ist?
Das ist nicht ganz klar. Die Teilnehmer der Proteste behaupten, dass es sich um eine informelle Abmachung zwischen den Produzenten handelt. Ob das stimmt, wissen wir nicht. Die Regierung behauptet, es liege an der Entwicklung von Angebot und Nachfrage. Wir haben ja im Moment grundsätzlich weltweit steigende Energiepreise.
Aber Kasachstan versorgt sich doch selbst mit Gas, oder?
Ja. Aber natürlich ist der interne Markt auch von den internationalen Preisfluktuationen beeinflusst. Man kann diesen Effekt vermeiden, wenn man Gaspreise stark reguliert und starke staatliche Kontrollen einhält. Das war in Kasachstan nicht der Fall. Und jetzt hat die Regierung erklärt, dass die kasachischen Produzenten sich «freiwillig» verpflichtet haben, die Gaspreise zu senken. Kasachstan hat grundsätzlich in der letzten Zeit nicht versucht, den Gaspreis unter Kontrolle zu halten.
Und wer profitiert von den gestiegenen Gaspreisen?
Die Unternehmen, zum Teil private und zum Teil staatliche. Die massive Erhöhung der Preise haben wir eigentlich auch in Europa, wenn auch in kleinerem Ausmass. Doch in einer Situation, in der die wirtschaftliche und die soziale Lage unter anderem durch Corona grundsätzlich schwierig ist, kommt es zu einer Eskalation der Proteste.
Wie haben sich die Menschen organisiert? Über das Internet?
Ja, das würde ich vermuten. Das Internet wurde nun aber ausgeschaltet. Ich kann nicht sagen, ob es eine «Twitter-Revolution» ist oder ob Social Media eine zentrale Rolle spielt, wie zum Beispiel beim Arabischen Frühling. So genau wissen wir das noch nicht.
Nutzt Putin jetzt die Situation, um sich selbst als Friedensbringer zu positionieren?
Ja, das ist genau das, was er macht. Es gab schon die Aussage des russischen Aussenministeriums, dass sie die Situation in Kasachstan als «inspiriert vom Ausland» betrachten. Der kasachische Präsident hat auch gesagt, dass die Teilnehmer der Proteste finanzielle Interessen hätten, und er hat angedeutet, dass sie vom Ausland bezahlt werden.
Wie kam es zur Einmischung Russlands?
Kasachstan ist Mitglied des Militärbündnisses OVKS, der Organisation des Vertrags über kollektive Sicherheit. Der Vertrag sieht auch eine Art Verteidigungsbündnis vor. Das heisst: Ein Land kann die anderen Länder um militärische Unterstützung bitten. Und es gab schon früher solche Fälle mit Kirgistan, aber da hat die OVKS entschieden, sich nicht einzumischen. Und ehrlich gesagt bin ich auch ziemlich erschüttert.
Worüber?
Darüber, wie schnell die militärische Hilfe kam. Die ganze Dynamik ist ein wunderschönes Beispiel, dass man immer mit ganz grossen Überraschungen zu rechnen hat. In erster Linie überraschend war die Breite der Proteste. Zweitens, dass Nasarbajew jetzt seinen Posten als Vorsitzender des Sicherheitsrates verloren hat.
Was hat es damit auf sich?
Nasarbajew war eine Art Schattenpräsident, bis Kassym-Schomart Tokajew nun selbst den Vorsitz des Sicherheitsrats übernahm. Die Regierung ist auch zurückgetreten, und gleichzeitig hat Kasachstan die OVKS um die militärische Hilfe gebeten. Russland hat sofort zugesichert, dass es die Streitkräfte schicken werde. Im russischen Fall sind es Elitestreitkräfte, die nun die Objekte der kritischen Infrastruktur schützen und auch der nationalen Regierung helfen sollen. Das gab es vorher noch nicht.
Was hätte Russland davon?
Putin nutzt das nun natürlich sehr gerne. Aber ich kann noch nicht nachvollziehen, von wessen Seite die Initiative kommt. Es sieht nicht so aus, als käme sie von Russland, weil Kasachstan immer sehr souverän war und immer aufgepasst hat, dass man eine Abhängigkeit von Russland vermeidet.
Präsident Tokajew hat diese Woche die Regierung entlassen – was bedeutet das?
Der Präsident will offenbar an der Macht bleiben und wird das Land nicht verlassen. Die Proteste an sich kamen nicht unerwartet, sondern vielmehr die politischen Ausmasse. Es wurde ja zum Beispiel der Präsidentenpalast gestürmt. Ausserdem unerwartet ist, wie die Regierung reagiert, insbesondere mit der Absetzung Nasarbajews und der ausländischen Militärunterstützung.
Wieso ist die OVKS sofort eingeschritten?
Das kann verschiedene Gründe haben. Zum einen ist Kasachstan ethnisch und kulturell sehr nahe an Kirgistan und die haben in den letzten Jahren drei Revolutionswellen gehabt. Es kann sein, dass die kasachische Regierung keine Situation wie in Kirgistan will. Andererseits war gerade Kasachstan politisch ausserordentlich stabil in Zentralasien. Nasarbajew war sehr geschickt darin, komplizierte Konflikte clever und sehr durchdacht zu manövrieren. Das Land hat die Transitionsperiode, also die Zeit nach dem Fall der Sowjetunion, sehr gut überstanden. Dass die Lage derart schnell eskaliert, ist für mich überraschend.
Welchen wirtschaftlichen Einfluss hat Russland auf Kasachstan?
Russland hat natürlich einen gewissen Einfluss. Aber eigentlich hat sich gerade Kasachstan in den letzten Jahrzehnten von Russland sehr gut emanzipiert. Kasachstan ist das Land in Zentralasien, das aus Sicht der Modernisierung am weitesten fortgeschritten ist, viel weiter als seine südlichen Nachbarn. Insbesondere Almaty ist eine moderne Stadt mit einer urbanen und gut ausgebildeten Bevölkerung. Kasachstan lebt sogar noch stärker als Russland von dem Export von Treibstoff wie Öl und Gas. Das Land hat schon die Pipeline-Struktur sehr stark diversifiziert.
Inwiefern?
Die Pipeline-Struktur geht nicht nur über Russland. Zudem hat Kasachstan schon in den frühen 90er Jahren sehr aktiv ausländische Investoren akquiriert. Wenn man mal Kasachstan und Belarus vergleicht, dann ist Belarus wirklich abhängig von Russland, und die Wirtschaft würde ohne russische Hilfe massive Probleme bekommen. Kasachstan ist unter keinen Umständen eine wirtschaftliche Marionette Russlands.
Sie sagen also, Kasachstan ist von Russland und den anderen Ländern der OVKS sehr emanzipiert – und jetzt fragt es genau dort nach Hilfe?
Von allen Ländern Eurasiens hätte ich von Kasachstan als letztes erwartet, dass sie nach ausländischer Hilfe fragen. Und dass sie diese auch so schnell bekommen. Es ist überraschend, dass sich Kirgistan, ein Land mit starken demokratischen Traditionen, an dieser Aktion beteiligt. Dort gibt es bereits Proteste dagegen. Es ist wirklich eine unglaublich ungewöhnliche Entwicklung.
Wie sollte sich die EU positionieren?
Das Einzige, was die EU machen kann, ist im Nachhinein Sanktionen einzuführen. Doch gerade in Kasachstan, einer grossen Energienation, wird es kaum etwas bringen. Die EU hat wirklich sehr begrenzte Einflussmöglichkeiten in Zentralasien.
Werden wir in Deutschland etwas von diesem Konflikt zu spüren bekommen?
Wir beziehen kein Gas direkt aus Kasachstan. Es wird also nicht zu einer Unterbrechung der Versorgung kommen. Es kann jedoch passieren, dass die generellen Preise auf den Märkten etwas nach oben gehen, aber das geschieht sowieso im Moment.
Was der Bericht allerdings nicht erwähnt, da er auf Deutschland bezogen ist: Bis zu 40% des schweizer Ölverbrauchs stammt aus Kasachstan. Dies weil unsere Raffinerien auf diese Art von Öl ausgelegt wurden. Seit Lybien als zuverlässiger Lieferant weggefallen ist, kommt nun Kasachstan zum Zug.