Bewaffnete Palästinenser haben israelische Ortschaften gestürmt. Hat es so etwas in kürzerer Vergangenheit schon einmal gegeben?
Hans-Lukas Kieser: Nein, in diesem Ausmass nicht. In den 50er-Jahren gab es die sogenannten «Infiltrationen», durch irreguläre palästinensische Kräfte. Das waren zum Teil einfach Flüchtlinge, die zurückwollten. Ansonsten wurden in der Region konventionelle Kriege geführt – 1948, 1967 und 1973. Dort haben reguläre Armeen versucht, in Israel einzudringen. Gelungen ist es diesen jedoch nicht. Daher erleben wir heute eine Premiere.
Die israelische Armee wirkt überrascht. Sehen Sie das auch so?
Ein Überraschungseffekt ist da. Anders kann man sich den massiven Luftschlag der Hamas nicht erklären. Zudem haben bewaffnete Palästinenser den Grenzzaun durchbrechen und mit Fahrzeugen in die israelischen Ortschaften fahren können. Damit hat Benjamin Netanjahu kaum gerechnet. Mit mehr als 20 israelischen Todesopfern ist der Angriff bereits jetzt traumatisch. Die Dschihadisten gehen auf alle Jüdinnen und Juden los, versuchen Geiseln zu nehmen, versuchen möglichst viele umzubringen.
Das alles an einem jüdischen Feiertag ...
Der Angriff hat Parallelen zu jenem von 1973. Die Attacke heute findet während des Sabbats statt. Und Israel feiert gerade das jüdische Fest Simchat Tora. Auch 1973 wurde der Angriff während eines Feiertags gestartet – weshalb die Auseinandersetzungen von damals als Jom-Kippur-Krieg in die Geschichtsbücher gingen.
Netanjahu kündigte an, er werde massiv zurückschlagen. Womit müssen die Palästinenser jetzt rechnen?
Sie müssen mit massiven Vergeltungsschlägen rechnen. Israel wird jetzt Angriffe auf alles, was nach Abschussrampe und Hamas aussieht, durchführen. In den vergangenen 20 Jahren hat Israel mehrere Vergeltungsschläge durchgeführt, welche in der Regel sehr verlustreich waren. Das liegt auch daran, dass die Hamas ihre Stützpunkte bewusst in Siedlungsgebiete gelegt hat. Dadurch können sie sich einerseits gut verstecken und andererseits globale Empörung schüren.
Wird es jetzt tagelange Gefechte geben?
Das ist schwierig zu sagen. Man muss sich bewusst sein, dass der Iran hinter der Hamas steht. Auch der islamische Dschihad hat sich der Offensive angeschlossen. Im schlimmsten Fall schliesst sich die Hisbollah den Angriffen an. Sie ist im Norden Israels stationiert und um ein Vielfaches stärker, als die Hamas im Gaza-Streifen. Ich gehe aktuell aber davon aus, dass der Angriff nur vom Süden her geführt wird. Israel dürfte die Kämpfer in relativ kurzer Zeit zurücktreiben oder töten. Denkbar ist auch ein Einmarsch der israelischen Armee im Gaza-Streifen. Insgesamt ist die Situation jedoch unberechenbar.
Iran hat soeben das Vorgehen der Hamas gelobt.
Die grosse Frage ist, was Iran will. Teheran hat weitgehend das Sagen. Normalerweise kalkulieren die Iraner jedoch sehr genau, wie weit sie die Situation eskalieren lassen wollen.
Haben die Angriffe von heute Potenzial für einen Flächenbrand?
Ja, eindeutig. Der Zeitpunkt für den Angriff wurde präzis ausgewählt. Es findet nicht nur ein jüdischer Festtag statt. Die israelische Gesellschaft ist zudem stark polarisiert aufgrund der rechtsextremen Regierung. Gleichzeitig herrscht ein generelles Kriegsklima. Die türkische Armee ist sehr aktiv, fliegt Angriffe auf Kurden in Syrien und Irak. Hinzu kommt der kürzliche Krieg im Kaukasus und der Krieg in der Ukraine. Die Lage ist derzeit sehr leicht entzündbar.
Nicht nur das, auch Katar und Saudi Arabien haben sich hinter die Hamas gestellt.
Ich frage mich, wieso wir uns nicht endlich von SA und Katar distanzieren? Deren Gas und Öl zu kaufen bedeutet, Kriege zu finanzieren. Beim nächsten Kauf einer Ölheizung oder eines Verbrenners immer genau daran danken!
Russland hat mittels der Strategie von „Polykrisen“ zweifellos ein Interesse daran, den Westen zu beschäftigen und nicht zuletzt zu spalten.
Die Menschen werden es dort niemals schaffen, in Frieden zu leben.
Da ist schlicht von beiden Seiten schon zu viel passiert.
Da gibt es nur Schuldige.