Michael Kretschmer: «Der AfD geht es darum, die anderen Parteien zu vernichten»
Herr Kretschmer, letzte Woche hat die Führung Ihrer Partei, der CDU, über die AfD diskutiert. Einige Ihrer Parteikollegen hatten zuvor einen anderen Umgang mit ihr gefordert, aber konkrete Beschlüsse gab es nicht. Also viel Lärm um nichts?
Michael Kretschmer: Unsere Klausurtagung drehte sich um die Frage, wie Deutschland seine wirtschaftliche Krise überwinden kann. Wo stehen wir nach fünf Monaten Regierungsarbeit in Berlin? Die Sitzung verlief konstruktiv, weil der Kanzler klar sieht, was getan werden muss, damit wir im internationalen Wettbewerb nicht weiter an Boden verlieren.
Wenn Peter Tauber, der frühere Generalsekretär Ihrer Partei, einen anderen Umgang mit der AfD fordert, leitet er also nicht eine Entwicklung ein, an deren Ende etwa CDU-Minderheitsregierungen unter Tolerierung der AfD stehen könnten?
Was Peter Tauber gesagt hat, wurde von vielen Journalisten bewusst falsch interpretiert, um Schlagzeilen zu produzieren. Im Kern sagte er, dass der Rechtspopulismus in Deutschland nach zehn Jahren nicht kleiner, sondern grösser wird. Also braucht es einen anderen Umgang damit. Diese Diagnose teile ich.
Und zu welcher Behandlungsmethode würden Sie greifen?
Das grösste Problem ist der übergriffige Staat, etwa in der Klimaschutzpolitik. Wir reden da etwa über die Frage, ob der Flughafen hier in Dresden überhaupt eine Zukunft hat. Durch die enorm hohen Flugsteuern, die die Ampel-Koalition beschlossen hat, ist er kaum noch wettbewerbsfähig. Ein anderer Fall ist die Verteufelung des Autos. Da müssen wir der SPD klarmachen, dass Haltung nicht Handeln ersetzt. Wir müssen schauen, was die Menschen in diesem Land wollen.
In der Migrationspolitik hat sich einiges getan, seit Friedrich Merz Kanzler ist. Trotzdem sind die Umfragewerte der AfD weiter gestiegen.
Das liegt daran, dass vor allem die linken Parteien in der Migrationspolitik jahrelang das gemacht haben, was sie auch jetzt wieder tun: Kritische Stimmen abzukanzeln, weil nicht sein darf, was nicht ins eigene Weltbild passt. Das hat dazu geführt, dass ein Riesenfrust in der Bevölkerung entstanden ist.
Die Leute sind also beleidigt und nicht so leicht wiederzugewinnen?
Sie haben das Vertrauen in die Lösungskompetenz der Politik verloren, und jetzt müssen wir es zurückgewinnen. Die ersten Schritte sind in der Migrationspolitik getan. Die Zahlen haben wir in wenigen Monaten halbiert. Wir haben als Union also recht behalten, als wir sagten, dass das geht.
Die Stimmen, die an die AfD gehen, sind für bürgerliche Regierungsbildungen verloren. Das hat unter anderem dazu geführt, dass Sie nun in einer Minderheitsregierung mit der SPD unter Duldung der Wagenknecht-Partei BSW regieren müssen. Funktioniert das?
Man muss umsichtig sein und sehr viel miteinander reden. Zwischen uns und der Linkspartei, den Grünen und dem BSW gibt es grosse Unterschiede, aber eben auch Schnittmengen. Nachdem wir diese Regierung gebildet hatten, haben wir ein Angebot an alle Parteien im Landtag gemacht, an der Gesetzgebung mitzuwirken. Die einzige Partei, die von sich gesagt hat, nein, wir wollen das nicht, wir wollen die Destruktion, war die AfD. Es geht ihr nicht darum, um die beste Lösung zu ringen, sondern darum, die anderen Parteien zu vernichten.
Dafür, dass sich die AfD irgendwann mässigen könnte, sehen Sie keinerlei Anzeichen?
Es ist nicht meine Aufgabe, darüber zu spekulieren.
Aber Sie müssen die Entwicklung der Partei doch beobachten, um beurteilen zu können, ob sie nicht irgendwann doch ein möglicher Partner werden könnte.
Ich sehe die Entwicklung der letzten zehn Jahre. Hier in Sachsen wurde die AfD vom Verfassungsschutz als gesichert rechtsextrem eingestuft. Ob die extremen Kräfte irgendwann aus der Partei gedrängt werden, weiss ich nicht. Anzeichen dafür sehe ich nicht.
Ein Verbot der AfD lehnen Sie aber ab?
Eine Partei, die die verfassungsmässige Grundordnung mit Gewalt abschaffen will und dazu auch die Möglichkeiten hat, muss man verbieten. Die AfD ist gesichert rechtsextrem, doch die anderen Merkmale, die für ein Verbot gegeben sein müssten, erfüllt sie nicht oder noch nicht.
Ist es klug, ständig über ein Verbot zu debattieren?
Es ist eine Ablenkung, die in den letzten Jahren funktioniert hat, auch weil so wenige Journalisten die Frage gestellt haben, warum die AfD so stark ist und warum SPD, Grüne und FDP als Regierungsparteien nicht in der Lage waren, die Gründe für den Erfolg der AfD zu beseitigen.
Kommen wir zu den Gründen. Deutschland befindet sich in einer schweren wirtschaftlichen Krise. Hat man hier im Osten eher Angst, das, was man sich in den letzten drei Jahrzehnten erarbeitet hat, wieder zu verlieren?
Diese Angst ist überall in Deutschland ausgeprägt.
Die Krise der Autoindustrie trifft Ihr Land hart. Könnte Volkswagen den Standort im sächsischen Zwickau bluten lassen, um Wolfsburg zu schonen?
In Europa wurden nach der Pandemie zwei Millionen Autos weniger gekauft als vorher. VW steht unter Druck, Produktionskapazitäten abzubauen. Dass wir gemeinsam mit der Bundesregierung eine Schliessung des Zwickauer Werks abwenden konnten, ist schon ein grosser Erfolg. Der Abbau muss gleichmässig über die Standorte verteilt werden.
Wie sehen Sie die bisherige Bilanz der Regierung Merz?
Wir haben es mit einer multiplen Krise zu tun, sodass an vielen Baustellen rasch gehandelt werden muss. Ich habe den Eindruck, Teile der SPD haben die Dramatik der Lage noch nicht verstanden. Das gilt auch, was das Verhalten der EU angeht: Dort warten über tausend Gesetzgebungsakte auf ihre Realisierung. Stattdessen sollte die EU vieles zurücknehmen, etwa die Verwaltungsrichtlinie und das Lieferkettengesetz. All das schadet dem Standort Europa.
Sie sprechen sich schon seit längerem für mehr diplomatische Anstrengungen gegenüber Russland aus. Und kürzlich sagten Sie, wenn Sie daran dächten, dass Deutschland demnächst 5 Prozent seines Bruttoinlandsprodukts für die Verteidigung ausgeben wolle, werde Ihnen schwindlig. Müssen Sie in Ihrer eigenen Partei den Störenfried geben, um ostdeutsche Wähler bei der Stange zu halten?
Auch das ist ein Verdienst von Friedrich Merz: Dass er diese nachdenklichen Stimmen immer gehört und in den Diskurs einbezogen hat. Ich wurde als stellvertretender Parteichef wiedergewählt. Wäre ich ein Aussenseiter oder Störenfried, wäre das nicht möglich gewesen. Im Übrigen habe ich in der Sache recht behalten: Sehr viele Staats- und Regierungschefs sprechen sich nun dafür aus, den Konflikt an der derzeitigen Frontlinie einzufrieren.
Putin scheint allerdings weiter auf seinen Maximalforderungen zu beharren. Ein Gipfeltreffen mit Donald Trump in Budapest wurde letzte Woche abgesagt.
Anstatt über diese Absage sollten wir lieber über den Kern der Sache reden: Ich habe mich schon vor zwei Jahren für ein Einfrieren des Konflikts ausgesprochen. Das hat auch mit der ostdeutschen Erfahrung zu tun: Wir haben die Russen als Besatzer erlebt und wissen eher, was alles möglich ist. Hätte man den Konflikt zwei Jahre früher eingefroren, hätten sehr viele Menschenleben gerettet werden können. Das ist ein europäisches Thema, das man nicht den Amerikanern überlassen darf. Amerika setzt seine Interessen gnadenlos durch. Manche fordern nun, Europa solle nie wieder russisches Gas kaufen. Russland bleibt aber eine Realität. Wenn wir komplett von russischen Lieferungen abhängig sind, trägt dies nicht zu unserer Sicherheit bei. Aber alles, was dazwischen liegt, ist ein Beitrag zur Stabilität.
Politisch scheint Ihnen Ihre Haltung in der Russland-Frage nicht viel zu bringen: Die AfD bewirtschaftet das Thema weiterhin mit Erfolg. Gleichzeitig erregen Sie in Ihrer eigenen Partei damit Anstoss.
Das stimmt.
Aber Sie sagen, hier stehe ich, ich kann nicht anders?
Wir leben doch in einem freien Land. Da sagt man seine Meinung, und wenn man falsch gelegen hat, kann man das auch einräumen. An dieser Stelle ist es aber so, dass ich recht behalten habe.
Kürzlich haben Sie angeregt, über Fragen wie die Wehrpflicht das Volk zu befragen. Könnte die direkte Demokratie ein Mittel sein, den Bürgern das Gefühl zu nehmen, dass über ihre Köpfe hinweg entschieden wird?
Ich finde es jedenfalls beispielhaft, wie die Schweiz das handhabt. Ob man solche Verfahren auch in Deutschland in dieser Form einführen kann, ist eine andere Frage.
Dieser Einwand kommt immer, wenn man mit deutschen Politikern über die direkte Demokratie redet.
Ich habe sehr viel von der Schweiz gelernt und mein Eindruck ist, dass die Entscheidungen dort immer anhand des gesunden Menschenverstands getroffen wurden. Bei den grossen Fragen, vor denen wir jetzt stehen, bei der Verteidigungsfähigkeit oder beim Klimaschutz, kann uns das nur nützen. Wenn es etwa darum geht, welche Fahrzeuge wir künftig fahren sollten, wären ein bisschen mehr Mass und Mitte hilfreich.
Warum sollte in Deutschland nicht funktionieren, was in der Schweiz funktioniert?
Man braucht dafür Vorarbeit und Erfahrung. Unsere Erfahrungen mit der direkten Demokratie sind aber ermutigend: Zu Beginn meiner Zeit als Ministerpräsident haben wir die Eltern sowie die Erzieherinnen und Erzieher in den Kindergärten gefragt, wofür wir einen bestimmten Geldbetrag ausgeben sollten. Auf einmal entstand ein Interesse an dem Thema. Schliesslich entschieden sie sich für eine Qualitätsverbesserung und nicht dafür, etwas kostenlos zu machen. Das Ergebnis war nicht bindend, aber wir haben uns daran gehalten.
Wie würde eine Abstimmung über die Wehrpflicht ausgehen?
Ich weiss es nicht. Aber eine Wehrpflicht greift sehr stark in das Leben der Menschen ein. Warum nicht zwei, drei oder vier verschiedene Varianten erarbeiten, im Bundestag diskutieren und dann der Bevölkerung zur Abstimmung vorlegen? Wir sind heute sehr stark in Blasen unterwegs; der Anteil der Menschen, die Zeitung lesen, sinkt. Die Mehrzahl informiert sich über soziale Medien. Durch direkte Beteiligung könnte ein ganz anderes Bewusstsein für die öffentlichen Angelegenheiten entstehen. (aargauerzeitung.ch)


