Was für Wolodymyr Selenskyj das olivgrüne T-Shirt ist, ist für Julia Timoschenko der goldblonde Haarkranz. Ein ikonisches Symbol, unverrückbar mit der eigenen Person und – zumindest eine Zeit lang – mit dem Freiheitskampf eines ganzen Landes verbunden.
Timoschenko war das Gesicht der ukrainischen Demokratiebewegung 2004, der sogenannten Orangen Revolution. Zwischen damals und heute liegen zwei Amtszeiten als Ministerpräsidentin, gesundheitliche Probleme und ein Gefängnisaufenthalt. Hinter Letzterem steckt «der Kreml», sagt sie.
Die Ablehnung des Putin-Regimes schwingt in jedem Satz mit, den Timoschenko leise, aber bestimmt in einem Hotel in Genf zu CH Media sagt. Zwischen Treffen mit internationalen Organisationen und der Weiterreise nach Warschau nimmt sie sich Zeit für ein Gespräch. Geht es um den Herrscher in Moskau, verfinstert sich der Blick der 62-Jährigen. Nur einmal atmet sie tief durch, bevor sie antwortet – als es um den Raketenangriff auf ihre Heimat geht.
Wir nähern uns dem Jahrestag des russischen Angriffs auf die gesamte Ukraine. Am 24. Februar, dem Tag des Kriegsausbruchs, waren Sie in Kiew. Wie haben Sie diesen Tag erlebt?
Julia Timoschenko: Mein Mann und ich waren in unserem Haus. Um fünf Uhr morgens weckten uns die Explosionen. Es gibt Leute, die sagen, sie hätten den Kriegsbeginn furchtlos und heldenhaft entgegengenommen. Ich bin ehrlich zu Ihnen: An diesem frühen Morgen hatten wir Angst. Diese Angst wurde recht bald zu Zorn – und dieser dann zum Willen zu kämpfen.
Kaum jemand hätte den Ukrainern zugetraut, dass sie die Russen so weit zurückdrängen können. Woher kommt dieser Kampfgeist?
Die Ukrainer kämpfen seit Ewigkeiten für ihr Recht, als unabhängige Nation zu existieren. Es ist in unserer DNA, in unserem Blut. Als die ersten russischen Raketen unser Land trafen, wurde unser historischer Kampfgeist wiederbelebt. In den ersten Tagen nach Kriegsbeginn bildeten sich lange Schlangen von Männern, die vor den Registrierungsstellen des Militärs anstanden, um in den Kampf zu ziehen. Wir alle wissen, es geht um unsere Existenz.
Seit letzter Woche ist klar: Schon bald verteidigen Sie sich mit Kampfpanzern aus dem Westen. Wie wichtig sind diese Waffen für die Ukraine?
Sehr wichtig. Einerseits symbolisch, aber es ist auch ein Wendepunkt im Krieg. Symbolisch, denn es bedeutet das Ende der Zeit, in der sich Anführer einiger Länder vor Putin fürchteten.
Sie meinen Deutschland.
Einige Länder. Es bedeutet das Ende der Zeit, in der es Zweifel gab, dass die Ukraine gewinnen kann. Gäbe es diese Zweifel noch, hätten wir die Kampfpanzer niemals bekommen. Es ist auch das Ende von Putins Hoffnungen, die Einheit im Westen spalten zu können. Es ist der Anfang vom Ende der russischen Besatzung der Ukraine. Die Voraussetzungen für eine starke Gegenoffensive sind nun geschaffen.
Fürchten Sie eine grosse russische Offensive im Frühjahr?
Wir haben keine Angst. Wir wissen, dass Russland alles versuchen wird, zu dem es in der Lage ist. Inzwischen ist klar: Der Mythos, die russische Armee sei die zweitstärkste der Welt, ist zerstört. Genau wie der politische Mythos, Russland sei eine Supermacht. Ich habe keinen Zweifel, dass Russland eine Offensive plant, und dass es weiter Raketen auf uns abfeuert. Aber es wird keine Wende in der Dynamik dieses Krieges geben. Eine russische Niederlage ist unabwendbar.
Ihre Heimatstadt Dnipro wurde vor einigen Tagen Schauplatz eines grausamen Raketenangriffs, bei dem mindestens 25 Zivilisten starben. Was geht Ihnen durch den Kopf, wenn Sie die Bilder von dort sehen?
Es trifft mich im Herzen. Ein unglaublicher Schmerz. Freunde meiner Verwandten haben ihre Eltern bei dem schrecklichen Angriff verloren. Meine Mutter und Teile meiner Familie leben ganz in der Nähe von dem Hochhaus, das getroffen wurde. Einige unserer Parteimitglieder helfen bei der Beseitigung der Zerstörungen. Sie sahen die leblosen Körper dort liegen. Die Bilder sind so tragisch und schmerzhaft: Eine junge Mutter mit ihrem Ehemann und ihrem kleinen Kind, die tot unter den Trümmern geborgen wurden, sich immer noch umarmend.
In den Herzen der Ukrainer ist nicht nur Schmerz, sondern auch ein grosses Verlangen, dass diejenigen, die diese Verbrechen begangen haben, bestraft werden. Das Europaparlament hat eine Resolution verabschiedet, die ein internationales Sondertribunal fordert. Das ist ein Schritt in die richtige Richtung. Diese Verbrechen gegen die Menschlichkeit müssen bestraft werden.
Die grösste Unsicherheit in diesem Krieg sitzt im Kreml. Sie haben Wladimir Putin mehrfach getroffen. Was treibt diesen Mann an?
Einige Politiker und Experten meinen, er sei verrückt oder krank, und dies treibe ihn an. Ich teile diese Meinung nicht. Was ihn antreibt ist das dunkle, rationale Böse. Das ist sein Wesen. Ich werde oft gefragt, ob er sich verändert habe seit der Zeit, als ich ihn als Ministerpräsidentin getroffen habe. Ich glaube nicht, dass sich Leute in seinem Alter verändern können. Das ist nicht möglich. Er war schon immer so. Aber die Welt und deren Anführer konnten oder wollten ihn nicht als das sehen, was er damals schon war. Er wurde durch eine rosarote Brille betrachtet.
Wie kann Putin gestoppt werden?
Nur durch einen Sieg der Ukraine. Putins Armee muss auf dem Schlachtfeld besiegt werden. Das wäre das Ende von Putins Regime. Es gibt keinen anderen Weg, ihn zu stoppen. Neue Versuche, Putin zu helfen sein Gesicht zu wahren und Kompromisse einzugehen, sind nicht der Weg zum Frieden, sondern zum Fortdauern des Krieges oder gar zu einem neuen Krieg und letztlich zur Destabilisierung Europas und der Welt. Dann würde er bekommen, was er will.
Putins Ziel war nicht die Krim oder der Donbass. Nicht einmal die Ukraine. Sein Ziel ist Macht. Weltweit, nicht nur in Russland. Er will die westliche Vormachtstellung in der Welt untergraben. Sein Ziel ist eine neue Weltordnung. Statt Rechtsstaatlichkeit und internationale Normen will er ein System, in dem Grenzen mit Gewalt verschoben werden können, um neue Imperien zu schaffen. Die Ukraine ist nur der Anfang. Deshalb braucht es einen entscheidenden Sieg und als Folge das Ende von Putins Regime.
Was wird Putin tun, wenn er in die Enge getrieben wird? Greift er zu Atomwaffen?
Bei Putin kann man nichts ausschliessen. Aber er versteht, dass selbst der Einsatz einer taktischen Atomwaffe sofort dazu führt, dass sich auch die restlichen verbündeten Länder von Russland abwenden würden. Er wäre allein und isoliert. Er versteht auch, dass der Einsatz von taktischen Atomwaffen gegen die Ukraine unvermeidlich die Nato in den Krieg hineinziehen würde. Das wäre das Ende von ihm selbst, seiner Clique und für Russland. Gegen die Nato kann er nicht bestehen.
Putin hängt an seinem Leben. Er weiss, dass selbst der Einsatz einer taktischen Atomwaffe letztlich sein eigenes Leben beenden würde. Tief im Inneren möge er den Einsatz einer taktischen Atombombe in Betracht ziehen. Aber als rationale Person, die er ist, versteht er, dass ihm das nicht das Resultat bringen würde, das er sich erhofft.
Selenski ist eigentlich Ihr politischer Gegner. Wie ist Ihr Verhältnis heute?
Es stimmt, vor dem Krieg waren wir in starker Opposition gegen seine Innenpolitik. Aus guten Gründen. Aber am Tag eins des Krieges haben wir uns mit dem Präsidenten getroffen, genau wie Politiker aus allen anderen Parteien. Ich habe seine Hand geschüttelt und ihm gesagt: Jetzt kämpfen wir für die Existenz der Ukraine, um das Überleben unserer Nation. Die Einheit innerhalb der Ukraine wurde im Verlauf des Krieges noch stärker. Das gibt uns Kraft für unseren finalen Sieg.
Aber es gibt Risse in der Einheit. Präsident Selenski und Vitali Klitschko, Bürgermeister von Kiew, streiten über Wärme- und Schutzräume in der Stadt, die nicht in Betrieb sind.
Ich weiss, dass Vitali Klitschko alles versucht, um die Einheit zu erhalten. Der Krieg ist nicht die richtige Zeit für Behörden, um Druck auf Bürgermeister oder Mitglieder von Klitschkos Team auszuüben, oder gar Strafverfahren zu eröffnen.
Im kommenden Jahr stehen Präsidentschaftswahlen in der Ukraine an. Werden Sie gegen Selenski antreten?
Es gibt keine Politik in der Ukraine im Moment. Wir denken darüber nach, wie wir den Krieg gewinnen, wie wir unsere Familien und unser Land am Leben erhalten. Wir sprechen nicht über Wahlen. Dafür gibt es keinen Platz. Ihre Fragen danach beantworte ich gerne – nach unserem Sieg.
Selenski steht derzeit wegen Korruptionsfällen in seiner Regierung unter Druck. Wie gross ist das Problem der Korruption in der Ukraine?
Zum Teil ist sie ein Erbe der Straflosigkeit, die lange Zeit in der Ukraine und zuvor in der Sowjetunion herrschte. Mit Unterstützung der Europäischen Union haben wir einige Elemente von Antikorruptionsinstitutionen etablieren können. Aber natürlich ist das noch nicht genug, um zu sagen, dass ein wirklicher Wandel bereits eingetreten ist. Bezeichnend ist aber, dass direkt nachdem Journalisten die aktuellen Fälle unter anderem im Verteidigungsministerium publik gemacht hatten, die betroffenen Bürokraten sofort gefeuert wurden. Die politischen Führer spüren den Druck aus der Gesellschaft, die die Straflosigkeit, wie sie vor dem Krieg existiert hat, nicht mehr zulässt.
Für westliche Staaten dürfte es ein grosses Problem werden, weiter Milliarden an die Ukraine zu überweisen, wenn dieses Geld in die Taschen einiger Bürokraten fliesst. Wird der Kampf gegen Korruption schnell und hart genug geführt?
Ich würde die Frage so nicht stellen. Die Ukraine kämpft nicht nur für sich selbst. Sie kämpft auch für die gesamte freie Welt. Hier müssen wir differenzieren. Ich erwarte, dass diejenigen, die diese Verbrechen begangen haben, im Rahmen der Rechtsordnung bestraft werden. Ich denke, das sollte in keiner Weise die Bereitschaft der anderen Länder beeinflussen, die Ukraine und ihr Volk weiter zu unterstützen. Ich bin davon überzeugt, dass die wichtigsten drei Institutionen, die bereits etabliert wurden: das nationale Anti-Korruptionsbüro, der Sonderermittler und das Antikorruptionsgericht, die Immunität der Ukraine gegen Korruption entscheidend stärken.
2011 brachte sie der damalige Präsident Viktor Janukowitsch ins Gefängnis ...
... nicht nur Janukowitsch. Seine Hand führte der Kreml.
Die EU und andere unabhängige Beobachter sprachen von einem politischen Urteil. Wären solche Dinge in der Ukraine von heute noch möglich?
Leider ja. Die Verlockung, die Justiz für politische Zwecke zu missbrauchen, ist nach wie vor da. Leider wurde unser Justizsystem vor dem Krieg nicht reformiert. Die Justiz ist noch nicht komplett unabhängig von politischen Einflüssen. Das ist eine Schwachstelle, die politische Führer dazu verleiten kann, sie als politisches Instrument einzusetzen. Mir ist sehr bewusst, dass die institutionellen Reformen in der Ukraine eine Menge Arbeit verlangen. Der Erfolg der Ukraine kann nicht vom Namen dieses oder des nächsten Präsidenten abhängen. Wir brauchen tiefgreifende institutionelle Reformen, damit die Straflosigkeit für Gesetzesbrüche gänzlich aufhört zu existieren. An diesem Punkt sind wir noch nicht.
Wie sehen sie die Rolle der Schweiz vor dem Hintergrund des Krieges?
Die Schweiz kann es sich aufgrund ihrer Geschichte leisten, neutral zu sein. Sehr wichtig für die Ukraine ist, dass die Schweiz trotz ihrer militärischen Neutralität in Sachen Werte nicht neutral ist. Wir sind der Schweiz sehr dankbar, dass sie die Sanktionen gegenüber Russland mitträgt und dass sie mehr als 70'000 ukrainische Flüchtlinge aufgenommen hat. Anfang letzter Woche hat die zuständige Kommission des Parlaments eine Initiative angestrengt, dass die Schweiz es Drittstaaten wie Spanien oder Deutschland erlaubt, Waffen mit Schweizer Bauteilen zu exportieren. Dafür sind wir sehr dankbar, es ist ein Schritt in die richtige Richtung.
Ausserdem wurden bislang russische Vermögen in Höhe von rund acht Milliarden Franken eingefroren. Uns ist bewusst, dass das ein heikles Thema ist. Aber wir erwarten, dass diese Vermögen für den Wiederaufbau der Ukraine nach dem Krieg eingesetzt werden. Die grösste Stärke der Schweiz ist ihre direkte Demokratie. Vielleicht sollte das Volk direkt über diese Themen abstimmen. Wir sehen, wie mitfühlend und hilfsbereit die Schweizer Bevölkerung gegenüber uns Ukrainern ist.
Wenige Tage nach dem Interview sorgten Medienberichte über eine Auslandsreise Timoschenkos für Aufsehen in der Ukraine. Sie verbrachte Neujahr in Dubai, wo sie am Strand eines Luxushotels gefilmt wurde. CH Media fragte nach:
Warum flogen Sie über Neujahr nach Dubai, obwohl Präsident Selenski politische Entscheidungsträger gebeten hat, das Land nicht zu verlassen? Glauben Sie nicht, dass ein solches Verhalten die Einheit in der Ukraine untergräbt?
Präsident Selenski hat das Dekret (welches es Offiziellen verbietet, aus privaten Gründen ins Ausland zu reisen) am 23. Januar 2023 erlassen. Vor diesem Tag war es Offiziellen über 60 sowie weiblichen Offiziellen erlaubt. Ich war von Beginn des Krieges an in Kiew. Meine Tochter und meine drei Enkel leben in Dubai. Sie zogen dorthin, bevor der Krieg begann. Ich hatte sie viele Monate lang nicht gesehen. Vielleicht war es meine menschliche Schwäche, aber ich habe meine Tochter und meine Enkel sehr vermisst. Zum Neujahrsfest habe ich sie besucht. Während des Besuchs übernachtete ich bei meiner Tochter.
En Espresso bitte
Wohl leider treffend gesagt. Umso wichtiger ist es, dass die Guten ihn gemeinsam besiegen und in die ewigen Jagdgründe schicken.
Rivka
Martin Baumgartner
Ein anderer Präsident könnte hoffentlich begreifen, dass die Annexion von fremdem Terretorium, auch wenn es sich (nur) um eine abrtrünnige Provinz handelt, nicht lohnt.