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Interview

Der ukrainische Botschafter sagt, was er von der neutralen Schweiz hält

Artem Rybchenko, Ukrainischer Botschafter in der Schweiz, spricht waehrend einer Medienkonferenz in der Ukrainischen Botschaft, am Dienstag, 23. August 2022 in Bern. (KEYSTONE/Peter Klaunzer)
Artem Rybchenko, der ukrainische Botschafter in der Schweiz, kehrt nach Kiew zurück.Bild: keystone
Interview

Der ukrainische Botschafter in Bern sagt, was er wirklich von der neutralen Schweiz hält

Artem Rybchenko war von 2018 bis 2022 ukrainischer Botschafter in der Schweiz. Jetzt kehrt er nach Kiew zurück, als Sonderbotschafter für den Wiederaufbau. Im Interview sagt er, was er von der Politik der neutralen Schweiz und von Aussenminister Ignazio Cassis hält.
26.12.2022, 19:04
Othmar von Matt / ch media
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Sie waren in Kiew und kamen nochmals kurz nach Bern zurück. Wie lange brauchten Sie dazu?

Artem Rybchenko: Ungefähr zwei Tage. Ich fuhr mit dem Auto von Kiew nach Winnyzja, weil der Zug für ein paar Stunden nicht fuhr. Dann mit der Bahn 15 Stunden nach Wien – und von da per Flugzeug nach Zürich.

Wie haben Sie die Stimmung in Kiew erlebt nach den zermürbenden Beschüssen mit Raketen?

Ich war zum sechsten Mal in der Ukraine seit Kriegsbeginn am 24. Februar. Bei diesen Besuchen zeigte sich jedes Mal ein anderes Bild. Im Sommer gab es deutlich weniger Probleme mit Energie und Heizungen als heute. Die Situation war auch in den Spitälern besser. Diesmal hat mich aber etwas besonders beeindruckt: Wie stark die Menschen innerlich sind. Sie wollen diesen Krieg unbedingt gewinnen. Sie glauben sogar, dass Russland ihn inzwischen verloren hat.

Im Ernst?

Ja. Was tun denn die Russen? Sie verlieren militärisch. Deshalb suchen sie Zuflucht zu billigen Lösungen und greifen von ausserhalb des Landes unsere zivile Infrastruktur an. Das taten sie schon im Sommer. Da verhinderten sie das Verschiffen von Landwirtschaftsprodukten. Im Winter greifen sie den Energiesektor an. Und im Frühling werden sie wohl versuchen, das Wassersystem der Ukraine zu attackieren.

Wie meinen Sie das?

Wir haben im Frühling manchmal Überschwemmungen, wenn das Wasser von den westukrainischen Bergen in die Ebene fliesst. Dann müssen wir damit rechnen, dass die Russen das System der kritischen Infrastrukturen mit Raketen angreifen, was für die Landwirtschaft wegen der Wasserfluten erneut zum Problem würde.

Wie sieht das Leben in Kiew aus?

Wissen Sie, was heute in einem typischen Hochhaus in Kiew vor sich geht?

Nein. Was denn?

Im Lift steht eine Notfall-Box – für den Fall, dass es nach einem Bombenangriff keinen Strom mehr gibt und der Lift steckenbleibt. In dieser Box gibt es Wasser, Biskuits und medizinische Produkte.

Getrauen sich die Menschen überhaupt noch in einen Lift?

In Kiew gibt es sehr viele Hochhäuser mit Liften. Lebt man im zweiten oder dritten Stock, kann man natürlich die Treppe hochsteigen. Das sieht aber anders aus, wenn man im 25. oder im 35. Stock lebt.

Nach viereinhalb Jahren als Botschafter in der Schweiz verabschiedeten Sie sich am Dienstag von Bundespräsident Ignazio Cassis. Wie war dieser Abschied?

Sehr freundlich und warm. Ignazio Cassis ist ein grosser Freund der Ukraine. Als Arzt versteht er die Gefühle von Menschen, die im Krieg Arme oder Beine verlieren. Und als Arzt blieb er auch stets Mensch – als Bundespräsident, der das Weltgeschehen genau verfolgen muss.

Artem Rybchenko (links) mit Bundespräsident Ignazio Cassis bei einer Demonstration gegen Russlands Krieg auf dem Bundesplatz.
Artem Rybchenko (links) mit Bundespräsident Ignazio Cassis bei einer Demonstration gegen Russlands Krieg auf dem Bundesplatz.Bild: keystone

Wie empfanden Sie die Arbeit mit ihm?

Schon im Jahr vor dem Krieg war ich mit ihm in Vilnus, Odesa und Kiew – und im Krieg in Lugano und Kiew. Auch auf der Zugreise von Polen in die Ukraine haben wir lange zusammen gesprochen. Die Kommunikation mit ihm und seinem Team war immer sehr positiv, offen und transparent.

Was tun Sie nach Ihrer Rückkehr in der Ukraine?

Ich werde Sonderbotschafter für den Wiederaufbau der Ukraine.

Das ist ein sehr verantwortungsvoller Job.

Das ist kein Job. Das ist mein Leben. Schon heute schlafe ich mit Gedanken zu meinem neuen Auftrag ein und wache wieder auf mit ihnen. Wer in dieser Kriegszeit für den Staat arbeitet, versucht, die besten Kontakte und die besten und schnellsten Entscheide zu ermöglichen. Er will seinem Land und seinem Volk Sicherheit zurückgeben. In dieser Zeit ist man nicht nur für seine eigene Familie verantwortlich, sondern für die ganze Nation. Präsident Wolodimir Selenski und unser Team sind der Beweis dafür.

Sie haben Selenski eben in Kiew getroffen. Wie war das Treffen?

Positiv wie immer. Er ist in diesem Krieg der bestmögliche Präsident der Ukraine. Zwar ist er kein klassischer Politiker, aber er strahlt Mut und Lust aus. Er gibt seinen Besuchern Energie – man will alles tun, um ihm zu helfen.

Hat das Gespräch auch gezeigt, dass die neue Botschafterin Irina Wenediktowa härter auftreten soll in der Schweiz wegen der Gelder von russischen Oligarchen?

Offen gesagt, sprachen wir mehr über die Zeit, in der ich in Bern war. Der grosse Fokus lag in dieser Zeit beim Wiederaufbau der Ukraine. Die Konferenz in Lugano war der Startschuss dafür. Wir besprachen, wie wir diesen Prozess weiterführen sollen.

Trotzdem: Nimmt die ukrainische Botschaft russische Oligarchengelder in der Schweiz stärker ins Visier?

Es ist nicht leicht, eine klare Antwort auf diese Frage zu geben. Jeder Botschafter erhält vom Präsidenten und vom Aussenminister Instruktionen für die Arbeit in «seinem» Land. Natürlich wissen wir, dass die Schweiz ein sehr wichtiger Finanz- und Bankenplatz ist in Europa und auf der Welt. Schon zu meiner Zeit setzten wir viele Schwerpunkte bei den Oligarchengeldern. So traf Oleksii Makeiev, der Sonderbeauftragte für Sanktionspolitik, Experten im Aussenministerium (EDA) und im Staatssekretariat für Wirtschaft (Seco). Makeiev ist inzwischen neuer ukrainischer Botschafter in Deutschland.

Artem Rybchenko mit seiner Tochter Amelie vor dem Eingang zur ukrainischen Botschaft in Bern.
Artem Rybchenko mit seiner Tochter Amelie vor dem Eingang zur ukrainischen Botschaft in Bern.Bild: Annette Boutellier

Russische Oligarchen und ihre Gelder in der Schweiz werden also tatsächlich stärker im Fokus stehen?

Sie könnten im Zentrum stehen. Das ist aber nicht gegen die Schweiz gerichtet. Unser Ziel ist es, dass russische Oligarchen mit Geld in der Schweiz, die in diesen Krieg verwickelt sind, dieses Geld nicht einfach für ihr Hobby verwenden oder es ihren Kindern weitergeben können. Es ist nur angemessen, wenn es für den Wiederaufbau der Ukraine verwendet wird. Aber ich möchte hier etwas betonen.

Was?

Wir respektieren die internationalen Gesetze, wir respektieren die Gesetze der einzelnen Staaten und wir tun nichts gegen das innerstaatliche Recht von Ländern, in denen die Oligarchengelder liegen. In der Schweiz braucht es neue Instrumente, um eruieren zu können, wem gewisse Gelder wirklich gehören. Das Parlament muss sie absegnen.

Wie viel russisches Geld ist in der Schweiz eingefroren?

Offiziell sind es 100 Millionen Franken, Stand heute.

Das ist nicht viel.

Es könnte mehr sein.

Müsste die Schweiz grundsätzlich mehr tun für die Ukraine? Der «Sonntags-Blick» zeigte auf, dass die Hilfe im Vergleich zu anderen Ländern eher bescheiden ist.

Die Schweiz gehört zu den zehn wichtigsten Ländern, wenn es um die Unterstützung der Ukraine geht. Sie hat den Wiederaufbau-Prozess in Lugano gestartet, sie bewilligte eben ein zweites 100-Millionen-Paket für die Ukraine, diesmal für die Winterhilfe. Die Schweiz finanziert Häuser in der Ukraine. Mit Bundespräsident Cassis und Nationalratspräsidentin Irène Kälin waren die zwei wichtigsten Repräsentanten des Landes mitten im Krieg in Kiew. Und die Schweiz hilft auch mit ihrer grossen Erfahrung.

Inwiefern?

Bei der Entminung von Land und beim Bau von Schutzräumen. Bei beidem hilft die Schweiz mit Know-how. In einem ersten Schritt kommt ein Team von fünf bis zehn Personen aus der Ukraine in die Schweiz und lernt, wie das Entminen und der Aufbau von Schutzbunkern funktioniert. Später gründen wir in der Ukraine Arbeitsgruppen, die mit Schweizer Spezialisten vor Ort verstärkt werden – und auch mit Politikern wie Nik Gugger, dem Co-Präsidenten der Freundschaftsgruppe Schweiz-Ukraine.

Ukrainer in der Schweiz sagen, die Schweiz müsse Druck auf die Ukraine ausüben, damit sie sich nach dem Krieg in ein Land ohne Korruption und Oligarchen entwickle. Wie sehen Sie das?

Präsident Selenski hat deutlich gemacht, dass es Zeit ist, ein ganz neues Land aufzubauen. Eine brandneue Ukraine – ohne Korruption. Schon heute haben wir fünf Institutionen gegen Korruption. Und die Ukraine hat selbst im Krieg noch immer ein parlamentarisches Präsidialsystem. Natürlich ist die Position des Präsidenten im Moment sehr hoch: Im Krieg ist er laut Gesetz Oberbefehlshaber der Armee. Für die Ukraine ist die europäische Integration zentral. Damit rückt sie näher an Europa. Und damit gehen für uns die Türen für viele Programme auf, die Brüssel finanziert.

Mit was für einem Gefühl kehren Sie in die Ukraine zurück?

Mit einem Gefühl grosser Dankbarkeit gegenüber der Schweiz und ihrer Bevölkerung. Sie tun sehr viel für unser Land und unsere Bevölkerung. (aargauerzeitung.ch)

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66 Kommentare
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Don Alejandro
26.12.2022 20:14registriert August 2015
Sehr nette Worte ggü. der Schweiz. Ich wünsche Herrn Rybchenko gutes Gelingen in seiner neuen Funktion. Und manchen in der Schweiz noch ein wenig mehr Verständnis dafür, dass unsere Neutralität im grossen Kontext auch momentan in der Ukraine mitverteidigt wird.
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dmark
26.12.2022 19:27registriert Juli 2016
Es wäre allerdings auch sehr hilfreich, wenn die Schweiz die Munition für den Gepard frei geben würde...
Ich meine sie bräuchte ja nicht direkt geliefert werden - das könnte dann Deutschland übernehmen.
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frank frei
26.12.2022 21:26registriert September 2018
Wie viel russisches Geld ist in der Schweiz eingefroren?

"Offiziell sind es 100 Millionen Franken, Stand heute."

Das ist nicht viel.

"Es könnte mehr sein."

Allerdings.
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