«Niemand wünscht sich, Flüchtling zu werden» – sagt Uno-Hilfswerk-Repräsentantin
Vor über dreieinhalb Jahren fiel Russland in der Ukraine ein und trieb unzählige Menschen in die Flucht – auch nach Moldau. Was hat sich seither verändert?
Anne-Marie Deutschlander: Zu Beginn handelte es sich um eine akute humanitäre Krise, in der Unterkünfte, medizinische Versorgung und Basisleistungen sehr schnell aufgebaut werden mussten. Obwohl wir uns heute nicht mehr in einer klassischen Notlage befinden, bleibt es schwierig, nur schon die Grundbedürfnisse zu decken. Wir versuchen, mit unserem bedarfsgerecht ausbezahlten Cash-Assistance-Programm das Notwendigste zu finanzieren. Aber die Flüchtlinge müssen mit sehr wenig Geld auskommen. Jetzt im Winter sind etwa die Heizkosten eine grosse Belastung.
Wer sind die Geflüchteten?
In Moldau leben derzeit rund 137'000 ukrainische Flüchtlinge, mehrheitlich Frauen und Minderjährige. Die Väter, Ehemänner und Brüder wurden grösstenteils zum Militärdienst einberufen. Die Frauen müssen sich oft um mehrere Angehörige kümmern. Zu ihnen gehören überdurchschnittlich viele «besonders Schutzbedürftige»: Kinder, ältere Menschen, Personen mit Behinderungen. Viele der Flüchtlinge sehen kaum noch Chancen auf eine Rückkehr und versuchen, sich zu integrieren. Die Pflege von Angehörigen erschwert vielen Frauen die Berufstätigkeit. Daneben ist die rumänische Sprache eine der grössten Hürden für den Arbeitsmarkt.
Gelingt diese Integration?
Zum Glück können heute mehr Flüchtlinge arbeiten und so selbst Miete zahlen. Andere kommen bei Gastfamilien oder in von uns unterstützten Gemeinschaftsunterkünften unter. Viele ukrainische Flüchtlinge verfügen dank ihres temporären Schutzstatus über Zugang zur medizinischen Grundversorgung. Wo dies nicht ausreicht, versuchen wir gemeinsam mit Partnern auszuhelfen.
Sie sind selbst oft im Terrain unterwegs. Welche Momente gehen Ihnen besonders nahe?
Da gibt es viele. Ich erinnere mich etwa an einen Besuch bei einer ukrainischen Frau, die ihre beiden älteren, pflegebedürftigen Eltern versorgt. Sie begrüsste uns in perfektem Englisch. Sie hatte vor dem Krieg auf Kreuzfahrtschiffen gearbeitet und war gut ausgebildet. Heute lebt sie mit ihren Eltern in einer Einzimmerwohnung, kann kaum das Haus verlassen und hat ihr gesamtes früheres Leben aufgegeben. Solche Begegnungen zeigen, wie abrupt sich ein Leben ändern kann – etwas, das wir uns kaum vorstellen können.
Die USA haben ihre Beiträge an das UNHCR massiv reduziert. Wie wirkt sich das auf Ihre Arbeit in Moldau aus?
Die Kürzungen haben uns sehr hart getroffen. Wir mussten Personal abbauen, Programme reduzieren, Partnerschaften verkleinern und Aktivitäten einstellen. Jede Entscheidung war eine Wahl zwischen «dringend» und «noch dringender».
Nach welchen Kriterien entscheiden Sie?
Wir konzentrieren uns konsequent auf lebensrettende und schutzrelevante Massnahmen für die verletzlichsten Personen. Besonders schmerzhaft war die Reduktion der Bargeldhilfen – sowohl in der Höhe der monatlichen Beträge als auch bei den Anspruchskriterien. Die Frage, wer unter den ohnehin besonders Schutzbedürftigen noch als «vulnerabel genug» gilt, ist kaum zu beantworten. Moldau ist ein wirtschaftlich herausgefordertes Land. Daher achten wir bei all unseren Massnahmen auf den gesellschaftlichen Zusammenhalt und darauf, dass auch bedürftige Moldauerinnen und Moldauer profitieren.
Hat die Solidarität der moldauischen Bevölkerung gegenüber den ukrainischen Flüchtlingen im Laufe der Zeit abgenommen?
Erstaunlicherweise nicht. Die Bevölkerung zeigt weiterhin grosse Hilfsbereitschaft. Viele sagen: «Die Ukrainer sind unsere Brüder und Schwestern.» Das spüren die Flüchtlinge und zeigen sich dankbar.
Mehrere westeuropäische Staaten haben die Bedingungen für ukrainische Flüchtlinge verschärft. In der Schweiz wird ihnen der Schutzstatus S nicht mehr automatisch gewährt. Gewisse westukrainische Regionen wurden gar als «sichere Herkunftsgebiete» eingestuft.
In Europa beobachten wir eine gewisse Ermüdung der Solidarität. Ich würde aber grosse Vorsicht walten lassen, Regionen als «sicher» einzustufen. Die Lage in der Ukraine bleibt unvorhersehbar. Rückkehrentscheidungen sollten daher sehr sorgfältig und individuell geprüft werden. Wenn die Schweiz angegriffen worden wäre und wir vor einem Krieg geflüchtet wären: Wer würde in ein Land zurückkehren wollen, in dem weiterhin Krieg herrscht und es keine Sicherheit gibt?
Das Parlament hat den Schweizer Beitrag für multilaterale Organisationen im Budget 2026 um 30 Millionen Franken gekürzt. Was heisst das für Ihre Arbeit?
Die Schweiz ist für Moldau bislang ein ausserordentlich verlässlicher und engagierter Partner. Wir hoffen sehr, dass mindestens die bisherigen Unterstützungsleistungen weitergeführt werden können. Jeder Franken, der hier ankommt, hat spürbare Wirkung gezeigt – das konnten wir zuletzt auch einer Delegation des Bundes direkt vor Ort demonstrieren.
Was wäre Ihr Wunsch an die Schweiz im Umgang mit den ukrainischen Flüchtlingen?
Alle Ukrainerinnen und Ukrainer, denen ich in Moldau begegne und die arbeiten können, tun das und tragen damit zur Gesellschaft bei. Ich habe nicht den Eindruck, dass sie auf bequeme Unterstützung aus sind. Generell ist es sehr einfach, Urteile zu fällen, wenn man nicht selbst ein Flüchtling in dieser Situation ist. Für uns ist das schwer vorstellbar. Aber auch für die Ukrainer war es vor vier Jahren kaum vorstellbar, dass sie einmal in dieser Lage sein würden. All diese Menschen hatten Berufe und einen Lebensstandard, der weitgehend unserem entsprochen hat. Und dann ändert sich das von einem Tag auf den anderen. Niemand wünscht sich, zum Flüchtling zu werden. Das sollten wir uns bewusst machen. (aargauerzeitung.ch)
