Festtagsstimmung im Kriegswinter
«Die Ukraine steht – schwer beschädigt – vor dem vierten Kriegswinter», behauptete die Tagesschau von SRF vor Kurzem. Tatsächlich herrschen inzwischen schon winterliche Verhältnisse, zum Teil mit Schnee und Eis auf den Strassen. Aber ist die Ukraine wirklich so schwer beschädigt, wie die Journalisten am Leutschenbach meinen?
In den letzten knapp zwei Wochen bin ich rund 1500 Kilometer quer durch die Ukraine gefahren, von Westen nach Osten, mit Zwischenstopps in fünf Grossstädten und zwei kleinen Ortschaften in Frontnähe. Es stimmt zwar, dass russische Drohnen- und Raketenangriffe einen Teil der Energieinfrastruktur ausser Gefecht gesetzt oder beschädigt haben; doch das Leben geht in einigermassen geordneten Bahnen weiter. Dem Strommangel zum Trotz versuchen Behörden und Privatleute, die Adventszeit mit Licht zu füllen.
In Kiew und anderen Grossstädten veröffentlichen die Behörden jeweils Versorgungspläne im Internet, welche Stadtviertel zu welcher Tages- und Nachtzeit Strom erwarten können. Die geplanten Ausfälle summieren sich pro Tag auf ungefähr 12 bis 13 Stunden, unterteilt in Blöcke von jeweils drei bis sechs Stunden. Laut Schätzungen sind 70 Prozent der Produktionskapazität von Kohle-, Öl- oder Gaskraftwerken beschädigt.
Bei den Wasserkraftwerken sollen es etwa 50 Prozent sein. Die drei unter ukrainischer Kontrolle verbliebenen Atomkraftwerke liefern dagegen stabil Elektrizität. Es sind inzwischen fast zwei Drittel der gesamten Produktion. Ohne die Atomkraft und ohne Stromimporte aus der EU wäre die Lage wirklich desolat.
Weihnachtslichter trotz Stromausfällen
Hinzu kommen die russischen Attacken auf ukrainische Förderstätten von Erdgas. Noch vor Kurzem war das Land beim Erdgas autark und konnte sogar exportieren. Wegen der Luftangriffe muss der staatliche Konzern Naftogas nun aber Gas importieren, um der Bevölkerung einen kalten Winter zu ersparen. Warm geblieben sind die Wohnungen bis weit in den Osten hinein – abgesehen von den Ortschaften in unmittelbarer Frontnähe.
Als grössere Belastung für Bevölkerung und Wirtschaft haben sich bis jetzt die Stromausfälle entpuppt. Um 16.30 Uhr bricht die Nacht herein, und viele Städte – vor allem im Westen – bleiben weitgehend dunkel. Die Stromversorger schaffen es allerdings meistens, die Verkehrsampeln, Strassenbahnen und U-Bahnen am Laufen zu halten. Viele Firmen stellen Generatoren auf die Trottoirs. Die mit den Stromerzeugern betriebenen Weihnachtsbeleuchtungen von Läden und Restaurants wirken wie helle, freundliche Inseln inmitten der Dunkelheit.
Die Behörden sorgen ausserdem dafür, dass riesige Weihnachtsbäume – zum Beispiel vor der Sophien-Kathedrale in Kiew oder dem Opernhaus in Lwiw – in Licht erstrahlen. Damit will man wohl auch die Moral stärken.
Im Zentrum von Charkiw, der zweitgrössten Stadt des Landes, sind Handwerker gerade damit beschäftigt, Bäume beim Denkmal des ukrainischen Nationaldichters Taras Schewtschenko mit batteriebetriebenen Lichterketten zu schmücken. Die offizielle Weihnachtsbeleuchtung, die das ganze Jahr über den Strassen der Innenstadt aufgehängt bleibt, funktioniert dagegen nicht.
Charkiw ist nur etwa 30 Kilometer von der russischen Grenze entfernt. Dennoch gibt es während meines Aufenthalts keinen einzigen Stromausfall im Stadtzentrum. Ich bin nun schon sieben Tage in der Ukraine unterwegs, und erst in Charkiw höre ich den ersten Luftalarm dieser Reise. Hörbare Explosionen bleiben jedoch aus. Vor dem potthässlichen Opern- und Balletttheater hat eine lokale Synagoge eine riesige Chanukkia, einen neunarmigen Leuchter, für das jüdische Lichterfest aufgestellt. Zwei Frauen lassen sich davor fotografieren – als ob es keinen Krieg und keinen Luftalarm gäbe.
Der Ukraine gehen die Männer aus
Während man in Charkiw nicht lange suchen muss, um Schäden russischer Luftangriffe auszumachen, ist das in Kiew oder Lwiw schon wesentlich schwieriger. Der im Westen von manchen Medien verbreitete Eindruck, dass sich in den Grossstädten eine Ruine an die andere reiht, ist vollkommen falsch.
In Kiew zum Beispiel kann man beim Hauptbahnhof ein einziges schwerbeschädigtes und teilweise ausgebranntes Hochhaus bestaunen, aber sonst gibt es kaum Zerstörungen zu sehen. Die Kaufhäuser im Stadtzentrum sind hell beleuchtet und gut bestückt, und in vielen Restaurants muss man reservieren, wenn man einen Tisch ergattern möchte.
Die von lärmigen und übel riechenden Generatoren beleuchteten Ausgehviertel sind vor allem von jungen Menschen bevölkert. Wer sich hier umsieht, erhält nicht den Eindruck, dass der Ukraine die Männer ausgehen.
Strom von Spital angezapft
Wie reagieren die Menschen auf die Stromausfälle? Die Ukrainer haben inzwischen ausgiebig Erfahrung mit solchen Mangelsituationen. Juri zum Beispiel ist stolzer Besitzer eines Tesla und gibt unumwunden zu, dass es manchmal schwierig sei, den Akku aufzuladen. «Ich schliesse das Auto gewöhnlich erst tief in der Nacht ans Netz an, das kostet dann auch weniger.»
Zuhause hat sich Juri eine Apparatur aus Autobatterien und einem Inverter gebastelt. Wenn es Strom hat, werden die Batterien aufgeladen, und während der Ausfälle wandelt der Inverter den Gleichstrom der Akkus in Wechselstrom um, der dann sowohl ein paar Lampen als auch den Computer und das Internet-Modem mit Energie versorgt.
Eine ganz elegante Lösung hat ein Hausbesitzer gefunden, der direkt neben einem Spital wohnt. Krankenhäusern wird der Strom nur selten abgestellt, deshalb hat der findige Mann das Leitungsnetz des Spitals angezapft. Wie er das genau hinbekommen hat, will er aber nicht verraten. Schlimm sind die Ausfälle für alte Menschen, die in den obersten Stockwerken von Hochhäusern wohnen. Wer nicht endlos Treppenstufen erklimmen möchte oder kann, muss häufig Stunden warten, bis der Lift wieder funktioniert.
Eine Supermarktkette, deren Filialen alle mit riesigen Generatoren ausgerüstet sind, hat Ecken eingerichtet, wo sich die Menschen aufwärmen können, wo sie ihre Telefone aufladen oder an Tischen sitzend an ihren Laptops arbeiten können. Es hat auch Mikrowellen, wo man sein Essen aufwärmen lassen kann. Damit lockt die Kette nicht nur Kunden an, sondern setzt in schwierigen Zeiten auch ein Zeichen der Solidarität. Die Supermärkte sind übrigens landesweit gut sortiert, es gibt alles, was die Leute brauchen.
Weihnachtszauber und Netztunnel
Selbst im teilweise zerstörten Isium, rund 30 Kilometer von den nächsten russischen Stellungen entfernt, sind Läden, Restaurants und Cafés geöffnet und rege besucht. Die kleine Stadt mit ihren schätzungsweise 25’000 Einwohnern hat seit dem Beginn der russischen Invasion schon zweimal den Besitzer gewechselt. Es ist schon dunkel, und auf dem Zentralplatz vor dem Rathaus hat die Stadt eine pulsierende Weihnachtsbeleuchtung installieren lassen, darunter eine künstliche Palme mit Lichterketten. Daneben steht ein Vater und ein Kleinkind, das neben seinem Kinderwagen steht und die Lichter bestaunt.
Am nächsten Morgen sind Soldaten und Bauarbeiter damit beschäftigt, Teile des weitläufigen Platzes mit Anti-Drohnen-Netzen zu schützen. Russlands Rubikon-Drohneneinheit macht die wichtige Verbindungsstrasse zwischen Isium und der Grossstadt Kramatorsk im Donbass mit ihren Angriffen unsicher. Darum führt jetzt ein Netztunnel vom Stadtzentrum über viele Kilometer nach Süden, um diese Nachschublinie vor Drohnenangriffen zu schützen. Auch in anderen Frontgebieten decken solche Tunnel immer mehr Strassenabschnitte ab.
Manchmal reagieren die Russen, indem sie mit ihren Drohnen brennendes Thermit auf die Tunnel abwerfen und so die Netze versengen. Auch die Witterung oder herabfallende Äste setzen den Schutzvorrichtungen zu. Es ist eine Sisyphusarbeit, sie instand zu halten. Auf der anderen Seite der Front bauen auch die Russen Netztunnel entlang ihrer Nachschubrouten. Nichts deutet darauf hin, dass eine der beiden Kriegsparteien zum Aufgeben bereit ist.
