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Interview

Coronavirus in New York: «Werden alle jemanden kennen, der starb»

Interview

New Yorkerin: «Werden alle jemanden kennen, der an Corona starb»

20.04.2020, 15:4821.04.2020, 09:33
Julia Dombrowsky / watson.de
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epa08346863 A person crosses a quiet Broadway, normally busy with shoppers and tourists on Monday, with the Chrysler building seen in the distance in New York, New York, USA, 06 April 2020. New York C ...
Leer: der Broadway in New York.Bild: EPA

Ein leergefegter Broadway, überfüllte Kliniken und LKWs voller Leichen – das sind die Bilder, die uns derzeit aus New York erreichen. Die Metropole an der Ostküste bricht den traurigen Rekord als US-Stadt mit den meisten Covid-19-Toten, inzwischen sind es über 13'000. Wie lebt man mitten in so einer Katastrophe? Wir fragten eine, die es wissen muss.

Lynne (Name geändert) ist 26 Jahre alt und arbeitet in der Onkologie-Forschung. Ihr Büro ist eigentlich auf der Upper East Side in Manhattan, doch momentan sitzt auch sie im Homeoffice fest. Wir haben mit ihr über Skype gesprochen.

epa08372161 Tourist walk past the Empire State Building in the Madison Square neighborhood of New York, New York, USA, 19 April 2020. New York's stay at home order is set until 15 May to limit th ...
Bild: EPA
«Irgendwie dachten die meisten auch lange: ‹Ach so, das ist eine Grippe. Ja gut, das sitz' ich doch locker aus.›»

Lynne, du lebst seit 15 Jahren in New York. Was ist für dich der Charme an Amerikas Traumstadt?
Lynne:
Ich lebe hier, seitdem ich elf Jahre alt war, also mein ganzes erwachsenes Leben und liebe es. New York ist einzigartig. Hier vermischen sich so viele Kulturen, Sprachen und diverse Menschen. In so einem Umfeld leben zu können, ist ein echtes Privileg. New York nennt man ja auch die Stadt, die niemals schläft. Und genau so ist es. Es gibt immer noch eine Bar, ein Restaurant und einen Club zu entdecken. Aber auch tagsüber ist das Tempo hier sehr schnell. Niemand hält auf der Strasse an, jeder hat ein Ziel und ist unterwegs – auch im übertragenen Sinn. Ich mag diese Mentalität. Die Leute haben keine Zeit für Lügen, sie sind brutal ehrlich.

Nun sind die Strassen leergefegt, Kühlboxen mit Leichen stehen vor den Krankenhäusern. Wann kippte die Stimmung bei euch?
Mitte März hörten wir alle die Nachrichten aus Italien und dem Iran. Aber niemand hat so eine Pandemie in seiner Lebenszeit bisher erlebt. Es wusste also keiner wirklich, was da kommen würde und was man tun könnte. Irgendwie dachten die meisten auch lange: ‹Ach so, das ist eine Grippe. Ja gut, das sitz' ich doch locker aus.› So wurde es von der Regierung ja auch viel zu lange kommuniziert. Es wurde heruntergespielt. Als die Covid-19-Initiative dann schliesslich durchgesetzt wurde, war das ganz schön heftig.

Warum, was für Konsequenzen hatte sie für euch im Alltag?
Erstmal blieben die Büros zu. Ich hatte Glück und behielt meinen Job. Ich kann sogar von zu Hause aus arbeiten. Viele meiner Freunde haben ihre Arbeit aber ziemlich schnell verloren. Und das ist für viele Amerikaner ein Problem.

«Diese Leute haben kein Einkommen mehr. Sie wissen nicht, wovon sie die nächste Zeit leben sollen, und auch nicht, wie lange sich dieser Zustand noch hinzieht. Das ist angsteinflössend und eine wirtschaftliche Katastrophe.»

Jetzt will der Staat New York wohl auch eine Maskenpflicht auf der Strasse. Wie sie das durchsetzen wollen, ist mir aber ein Rätsel. Denn bekanntlich gibt es gar keine Atemmasken mehr, die verteilt werden könnten. Als wir mit den Massnahmen anfingen, war ja schon gar nichts mehr auf dem Weltmarkt verfügbar.

Die Bilder, die man hier aus der Stadt sieht, wirken wie aus einem apokalyptischen Blockbuster ...
Ja, nur sind die Bilder aus New York wahr. Die leeren Strassen mitten in der Stadt ... Natürlich leben hier 8 Millionen Einwohner, was viel ist. Aber wir hatten auch immer viele Touristen und sehr viele Pendler, die nur in die Stadt hineinfuhren. Die fehlen jetzt im Stadtbild. Jeder versucht, zu Hause zu bleiben und sich aus dem Weg zu gehen. Die Gehwege in New York sind sehr eng. Es ist echt schwierig, die vorgeschriebenen sechs Fuss (ca. 1,83 Meter) Entfernung zu anderen einzuhalten.

FILE - In this Friday Sept. 20, 2019 file photo, climate change activists participate in an environmental demonstration as part of a global youth-led day of action in New York, as a wave of climate ch ...
Bild: AP

Triffst du noch jemanden aus deinem Umfeld?
Nein, meine Freunde sehe ich nur noch online. Wir facetimen viel, um nicht vollends verrückt zu werden. Aber das ist natürlich nicht dasselbe. Man will sich umarmen, man will sich gegenübersitzen. Mein Gott, wir sind doch alle soziale Wesen. Ich habe nächsten Monat Geburtstag und werde wohl in völliger Isolation feiern müssen.

Wie versuchst du, damit klarzukommen?
Um einen Lagerkoller zu verhindern, jogge ich mehrmals die Woche. Ansonsten soll man nur noch für triftige Gründe raus – zum Beispiel für den Einkauf. Auch das ist momentan seltsam. Wir haben diese gigantischen Läden in den USA, in denen manchmal nur noch die erlaubten 20 Kunden umherwandern. Zwischen 6.30 und 9 Uhr sind die Supermärkte für Jüngere ganz gesperrt, da sollen nur Menschen ab 60 Jahren kommen, um sie vor einer Ansteckung zu schützen.

«Viele geben sich grosse Mühe, der Situation gerecht zu werden. Aber wir erleben auch viel Rassismus momentan.»

Was macht die Stimmung mit euch?
Meine asiatisch-amerikanischen Freunde haben schon richtig Angst, auf die Strasse zu gehen, weil es zu Übergriffen kam. Nur ein Beispiel: Meine Kollegin wurde auf der Strasse angebrüllt, einfach so. ‹Das ist alles deine verfickte Schuld›, schrien sie. Einige Menschen sind offenbar schlecht informiert und haben Panik. So lassen sie es raus. Schrecklich. Diese Ignoranz führt zu Gewalt.

New York wurde besonders hart von Covid-19 getroffen. Kannst du dir erklären, warum?
Zum einen sind unsere Flughäfen ein Knotenpunkt für viele Reisende aus aller Welt gewesen. Da gab es sicher viel Austausch. Dann denke ich auch, dass die öffentlichen Verkehrsmittel eine Rolle spielen. In kaum einer anderen amerikanischen Stadt wird so viel U-Bahn und Bus gefahren wie in New York. Und da sitzen die Leute natürlich dicht an dicht.

FILE - In this April 13, 2020, file photo, a patient arrives in an ambulance cared for by medical workers wearing personal protective equipment due to COVID-19 concerns outside NYU Langone Medical Cen ...
Bild: AP

Verstärkt wurde die Entwicklung dadurch, dass viele New Yorker sehr schlecht krankenversichert sind und sie es vermeiden, zum Arzt zu gehen. Ich kann mir gut vorstellen, dass Kranke gerade in der Anfangszeit noch versucht haben, die ersten Symptome auszusitzen. Sie wollten nicht in die Klinik, hatten kein Geld und nahmen weiter am gesellschaftlichen Leben teil – so etwas beschleunigt die Verbreitung natürlich.

Hast du Angst, an Corona zu erkranken?
Anfangs gar nicht. Ich dachte, ich bin keine Risikogruppe und ausserdem sehr jung. Aber inzwischen sterben auch sehr viele Menschen in den Zwanzigern und Dreissigern. Das beunruhigt mich schon, um ehrlich zu sein. Ausserdem bin ich verantwortlich für meine Familie. Ich möchte nicht schuld an einer Erkrankung meiner Eltern sein. Ich habe ja zumindest das Glück, nicht an vorderster Front arbeiten zu müssen.

Bei einer Freundin von mir, die Krankenschwester ist, wurde gerade ein Kollege positiv getestet. Sie hat jetzt grosse Angst. Ich habe grossen Respekt vor allen, die jetzt noch raus müssen. Busfahrer und Kassierer und alle meine Freunde im Gesundheitswesen. Sie gehen raus und tun, was sie können. Und das, obwohl sie sich derzeit sehr hilflos fühlen.

«Sie sehen, wie Patienten um sie herum leiden und sterben, und können oft nicht helfen, weil es an Beatmungsgeräten und anderem Equipment fehlt. Das ist sehr belastend und ich rechne jedem diesen Dienst hoch an.»

Was denkst du über die Massnahmen der US-Regierung?
Die Politiker an der Spitze hätten ehrlicher sein sollen. Viele wichtige Informationen zur Ansteckung und Erkrankung wurden der Öffentlichkeit viel zu spät erklärt. Wie gesagt: Lange hiess es, Covid-19 sei in den Griff zu kriegen. Die Gefahr wurde heruntergespielt. Da ging es sicher auch um politische Interessen. Aber mit diesem Verhalten haben Politiker das Leben von Menschen riskiert.

The normally busy area of Wall Street at the New York Stock Exchange is empty on a rainy day in New York, Monday, April 13, 2020. Gov. Andrew Cuomo says New York's death toll from coronavirus has ...
Leer: die Wall Street.Bild: AP

Jetzt tun wir alle, was wir nur können, um der Situation gerecht zu werden. Wir hätten aber viel früher damit beginnen müssen. Ich hoffe nur, dass wir beim nächsten Mal besser vorbereitet sind. Dass wir unsere Lektion lernen. Wenn diese Pandemie vorbei ist, werden wir alle einen Menschen kennen, der an Corona starb. Das ist ein trauriger Gedanke.

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