Xi Jinping hat am Dienstag Wuhan besucht, das «Epizentrum» der Corona-Seuche. Wollte er damit signalisieren, dass China die Lage im Griff hat?
Sebastian Heilmann: Die offizielle Botschaft ist eindeutig, dass dieser «Volkskrieg» gewonnen ist. Die Frage ist, wie die Situation vor Ort überall aussieht. Da gibt es gewisse Zweifel. Im Grunde ist es ein Beschluss des Politbüros, dass diese Epidemie zu Ende ist.
Das Ende wurde quasi von oben herab verordnet?
Die Epidemie und ihre Folgen sind wirtschaftlich, sozial und politisch enorm schädlich. Das war nicht mehr tolerabel. Gleichzeitig gibt es Informationen, dass es weitere Infektionsherde gibt und Fälle in anderen Landesteilen. Das Virus ist nicht tot. Wenn die Menschen wieder unterwegs sind, kann es zu einer weiteren Epidemie-Welle kommen. Das reale Geschehen ist wesentlich komplexer als die offiziellen Jubelmeldungen.
Was jetzt passiert, ist vor allem Propaganda?
Nicht nur Propaganda, sondern vor allem Informationsunterdrückung. Unschöne Dinge dürfen nicht mehr nach aussen dringen. Das ist die Staatsräson. Die Epidemie muss jetzt beendet sein, sonst wird es wirtschaftlich für China ausserordentlich gefährlich.
Schon zu Beginn versuchte man, Berichte über den Ausbruch der Epidemie in Wuhan zu unterdrücken.
Das ist ein Teil des Systems. Wir bekommen viele Informationen über China nicht, die sehr wichtig wären, aber aus politischer Sicht nicht genehm sind.
Wie kann man den Umgang Chinas mit der Corona-Krise beurteilen?
Wir im Westen gewichten individuelle Freiheitsrechte in Normalzeiten höher als das Kollektivinteresse. Genau das wird zu einem Riesenproblem in Zeiten einer Pandemie. Der Einzelne kann dann nicht mehr einfach machen, was er will – zum Schutz der Bevölkerung. In der Epidemiebekämpfung hat Chinas autoritäres System es einfacher. Denn es muss sich für drastisch einschränkende Massnahmen nicht rechtfertigen.
Wenn die Partei will, steht alles still.
Durch die Vollbremsung und die Quarantäne für grosse Teile des Landes hat sie einen erheblichen wirtschaftlichen Schaden riskiert. Die Bekämpfung der Epidemie hatte absolute Priorität, ohne Rücksicht auf menschliche und wirtschaftliche Belastungen. Gleichzeitig kann die Kommunistische Partei in China auf Mobilisierungsmethoden zurückgreifen, die wir in dieser Form nicht zur Verfügung haben: Ärzte über Monate von einer Stadt in eine andere versetzen, Bautrupps für Notspitäler Tag und Nacht einsetzen, medizinisches Personal aus dem Urlaub zurückrufen. Unsere Demokratien haben grosse Schwierigkeiten, eine ähnliche Mobilisierung zu erreichen.
Virologen und andere Experten bezeichnen China deshalb als Vorbild und fordern ähnlich rigorose Massnahmen bei uns.
Von chinesischer Seite wird die Eindämmung der Epidemie auch als Systemwettbewerb gesehen: China habe bewiesen, dass es schnell und wirkungsvoll handeln könne. Der Westen hingegen, vor allem die USA, habe Mühe, erforderliche Massnahmen durchzusetzen. Ich rechne damit, dass diese Sichtweise in den chinesischen Medien ausgiebig dargelegt wird. Chinas Regierung nutzt die globale Pandemie, um die Überlegenheit des eigenen Systems zu belegen.
Am Ursprung der Epidemie aber hat es versagt.
Die Erstreaktion in China fiel verzögert aus, weil die Verantwortlichen von unten nichts entscheiden und auch keine Nachrichten herausgeben konnten. Das würde in westlichen Gesellschaften anders verlaufen. Wir würden sehr schnell viele Informationen von unten bekommen. Wir hätten also wahrscheinlich Vorteile gegenüber China in der Startphase der Epidemie gehabt. In der Mobilisierungsphase aber hat Chinas Regierung rasch einen gewaltigen Handlungs- und Kontrolldruck aufbauen können.
Dann könnte China sich am Ende als Sieger fühlen?
Im Moment sieht es so aus. Wenn in China keine neue Infektionswelle kommt und im Kontrast bei uns die Epidemie für anhaltendes Chaos sorgt, dann wird das dazu führen, dass China sich weltweit auch als politisches System modellhaft darstellt.
Das demokratische Taiwan aber hat auch schnell reagiert und die Lage unter Kontrolle gebracht.
Diese Epidemie führt zwangsläufig zu Systemvergleichen mit Blick auf die Effektivität der Eindämmungsmassnahmen. Als «Goldstandard» der Epidemiebekämpfung kann auf dem heutigen Stand Singapur gelten. Bevor dort überhaupt die ersten Infektionen nachgewiesen wurden, hatte man schon das gesamte Gesundheitssystem mobilisiert, Menschen mit Grippesymptomen und Einreisende aus China vorsorglich in Quarantäne gesetzt, medizinische Spezialtrupps zur Virusbekämpfung zusammengestellt usw. So wurde die Epidemie in Singapur kontrolliert, obwohl der Stadtstaat eine Drehscheibe für Business und Tourismus ist. Singapur hat aus der Sars-Epidemie vor 17 Jahren konsequent gelernt, um sein Gesundheitssystem gleichsam «epidemiefest» zu machen.
Die Asiaten haben mehr Erfahrung mit solchen Epidemien, etwa auch der Vogelgrippe oder Mers?
Wir haben im Westen ein mentales Problem. Noch Anfang März konnten wir bei vielen europäischen Ärzten beobachten, dass sie die Pandemiegefahr verneinten, weil sie eine solche Bedrohung hier bei uns nie erlebt hatten und deshalb für unwahrscheinlich hielten. 2003 hatte ich den Sars-Ausbruch in China miterlebt. Wir sind damals nur mit viel Glück einer globalen Pandemie entgangen. Seitdem habe ich eine von China ausgehende Pandemie in meine Szenarien und Publikationen explizit einbeziehen müssen. Ich befürchte, wir haben Nachteile im Westen, weil wir im Kopf nicht die Kurve kriegen: Wir können uns nicht vorstellen, dass eine solche «mittelalterliche Seuche» unsere vermeintlich so hoch entwickelten Gesellschaften fundamental erschüttern kann. Erst so langsam verstehen wir, was da auf uns zurollt.
Während es in China sogar schon Versuche zu geben scheint, die Herkunft des Virus zu verschleiern.
Das ist eine wirkliche Verbiegung von allem, was wir wissen, und ein ganz klarer Versuch, den schwarzen Peter anderen zuzuschieben. Aus meiner Sicht ist das pure Propaganda.
Man hört aber auch von einem Unmut in der Bevölkerung, etwa über den Tod des Arztes Li Wenliang, der die Bevölkerung vor dem Virus warnen wollte.
Dieser Unmut konnte sich nur kurzzeitig offen äussern und wurde dann von der Online-Zensur weggedrückt. Momentan aber beobachten wir in Chinas sozialen Medien eine aufkommende Welle der Wertschätzung für das System. Das ist eine Folge des zeitlichen Verlaufs. Sobald der Erfolg sich zeigt, rechtfertigt er die Mittel. Chinas Bevölkerung schaut nun kritisch darauf, wie westliche Regierungen und Gesellschaften mit der Epidemie umgehen.
Xi Jinping war in der ersten Phase abgetaucht. Jetzt kann er auftrumpfen.
Er präsentiert sich als «Führer des Volkes». Dieser Ehrentitel hatte sich bislang nicht richtig durchgesetzt. Das dürfte sich nun ändern. Er wird den «Sieg» über das Virus als Erfolg für sich verbuchen.
Kann er nun seine Position noch mehr stärken?
Wenn Chinas Regierung Virus und Kommunikation unter Kontrolle halten kann, wird Xi Jinping zweifellos an Autorität und Zustimmung gewinnen.
China beweist vordergründig, dass man wirtschaftlichen Erfolg ohne persönliche Freiheit haben kann ...
... und digitale Transformation ohne freie Wissenschaft und freie Bürger, obwohl es immer hiess, ohne diese Voraussetzungen gebe es keine Innovation. China ist eindeutig auf einem anderen Pfad und will in mehreren Stufen bis 2049 die weltweit führende Innovationsmacht werden.
Im Westen führt dies teilweise zu einer fast schon kritiklosen Bewunderung.
Der Preis ist schon auch den Bewunderern klar. China ist keine freie Gesellschaft. Nur wenige Westler wollen in einer unfreien Gesellschaft leben. Da müssen wir in Europa klar Farbe bekennen. Die freiheitlichen Gesellschaften, die unsere Vorfahren erkämpft haben, müssen wir verteidigen. Unsere freiheitlichen Ordnungen sind überaus kostbar. Wir dürfen sie nicht aus falschem Neid auf China preisgeben.
Die Corona-Krise verdeutlicht auch unsere Abhängigkeit von China gerade im Bereich Gesundheit. Könnte sich da etwas ändern?
Sicherheitsrelevante Lieferketten müssen auf Verwundbarkeiten und Risiken hin überprüft werden. Wenn wir bei Wirkstoffen und Grundarzneimitteln wie Antibiotika und Schmerzmitteln Versorgungsengpässe erleben, wird sich die Regulierung ändern müssen. Wirkstoffe müssen wieder in Europa hergestellt werden, notfalls mit Steuervorteilen und komplett roboterisiert. Die Standorte müssen in Europa sein, wenn Lieferketten so verwundbar geworden sind, dass im Epidemiefall keine Medikamente zur Verfügung stehen.
Das gilt auch für Schutzmasken und anderes Material.
Das sind keine Hightech-Produkte. Mit den notwendigen Maschinen könnten wir die Produktion in Europa schnell hochfahren. Bei den Wirkstoffen ist die Lage wesentlich komplizierter. Wir hatten schon in Normalzeiten einzelne Lieferprobleme und können angesichts der aktuell bedrohlichen Störungen in den Lieferketten definitiv nicht mehr so weitermachen.
Bis jetzt gab es eine Art Konsens, dass man wichtige Infrastrukturen dem Zugriff Chinas entzieht. Muss man also weitergehen?
Epidemien sind eine elementare Sicherheitsbedrohung. Dafür müssen wir uns wappnen. Pandemien sind gefühlt eine «vormoderne» Bedrohung, und wir antworten immer noch mit mittelalterlichen Methoden wie Quarantänen und Grenzkontrollen. In China nutzt man Hightech, etwa Smartphone-Apps, mit denen Infizierte und Nicht-Infizierte gleichsam markiert und Risikopersonen in ihren Bewegungsmöglichkeiten eingeschränkt werden. Diese Herangehensweise ist mit unseren individuellen Freiheitsrechten auch in Epidemiezeiten nicht vereinbar. Hier zeigt sich in aller Deutlichkeit ein Systemkonflikt.
Die Skepsis nimmt bereits zu. Das Schweizer Parlament hat einer verstärkten Investitionskontrolle zugestimmt, die in erster Linie auf China zielt.
In der EU und in Deutschland ist dies auch der Fall. Die Mehrheiten verschieben sich momentan, das Misstrauen wächst. Mit gutem Grund. Das politische System in China ist viel repressiver geworden und baut totalitäre Überwachungsmethoden aus. In Xinjiang sehen wir haarsträubende Entwicklungen wie ein riesiges System von Umerziehungslagern. Das alles geht in eine Richtung, die wir als freiheitliche Gesellschaften nicht akzeptieren können.
Die Schweiz hat sich wirtschaftlich stark auf China ausgerichtet, nicht zuletzt mit dem Freihandelsabkommen.
Alle Europäer müssen in ihren Geschäftsbeziehungen zu Unternehmen aus autoritären Systemen besonders misstrauisch sein und diese doppelt und dreifach prüfen. Denn es handelt sich um Unternehmen, die aus einem Kontext heraus operieren, der keine Informationsfreiheit und keine Rechtsstaatlichkeit kennt. In autoritären Systemen können vermeintlich kommerzielle Unternehmen von einem Tag auf den anderen zu politischen Instrumenten der Herrschenden werden. Konkret: Kein chinesisches Unternehmen kann sich dem Zugriff der Kommunistischen Partei entziehen. Manche Europäer sind in ihren Beziehungen zu chinesischen Geschäftspartnern überaus leichtfertig und kurzsichtig. In unserem ureigenen Interesse müssen wir diese Kurzsichtigkeit unbedingt ablegen.
Müssen wir Donald Trump für seinen Wirtschaftskrieg fast schon dankbar sein?
Seine Strategie ist zutiefst nationalistisch. Aber er ist in die chinesischen Aufhol- und Aufstiegspläne wie keiner zuvor hineingegrätscht. Andererseits kümmert er sich überhaupt nicht um Menschenrechte oder die Muslime in Xinjiang. Das interessiert ihn nicht. Wenn wir einen demokratischen Präsidenten in den USA bekommen, wird sich der Konflikt mit China verschärfen, weil es dann auch um diese Aspekte gehen wird. Das Verhältnis könnte noch unversöhnlicher werden, denn bei den Menschenrechten gibt es anders als in den Handelsbeziehungen viel weniger Raum für Kompromisse.
Trump hat besonders den Tech-Konzern Huawei im Visier. Er attackiert sogar seinen treuen Verbündeten Boris Johnson, weil der Huawei nicht rauswerfen will. Auch Schweizer Telekoms arbeiten beim 5G-Netz mit Huawei zusammen. Wie sehen Sie diesen Konflikt?
Huawei ist ein nationaler Champion, die Speerspitze der chinesischen Technologiepolitik. In Sachen Innovationskraft ist es eine hervorragende Firma, keine Frage. Aber sie ist auch ein politisches Instrument, eng eingebunden und gefördert vom chinesischen Staat. Das muss uns misstrauisch machen. Wir müssen Huawei auf die Finger schauen. Sie dürfen in den Wartungszentren für 5G nicht allein gelassen werden und Zugriff auf die gesamte Software und alle Daten erhalten. Die zweckmässige, gut machbare Lösung ist es, die Wettbewerber Ericsson und Nokia stets ebenfalls in Ausrüstung und Wartung der 5G-Netze einzubeziehen, damit Huawei und die europäischen Konkurrenten ständig eine gegenseitige Qualitäts- und Sicherheitskontrolle durchführen. Das ist eine marktkonforme Lösung. Zugleich müssen staatliche Cybersecurity-Einheiten gezielt qualitativ aufgestockt und durch internationale Kooperationen und Trainings geschult werden. Freiheitliche Gesellschaften müssen auch im Cyberraum viel wehrhafter und widerstandsfähiger werden.
Die Beteuerungen von Huawei, man werde niemals andere Länder ausspionieren, sind nicht glaubhaft?
In China hat die Kommunistische Partei immer Vorrang. Wenn die Staatssicherheit anklopft, muss Huawei die Türe aufmachen. Ich habe einige Manager von Huawei kennengelernt und glaube ihnen, dass sie persönlich keinesfalls Spionage betreiben wollen. Sie wollen wie alle guten Manager ein tolles Geschäftsmodell aufbauen und ein globaler Player werden. Die politische Einflussnahme wollen sie nicht. Aber im Ernstfall können sie sich der politischen Instrumentalisierung nicht entziehen. Das ist völlig ausgeschlossen. Man muss also stets den autoritären und industriepolitischen Kontext mitbedenken, aus dem heraus Huawei agiert.
Man kann sich aber auch nicht einfach von China abkoppeln. Wir sind zu stark miteinander vernetzt.
Wir haben schon jetzt grosse Erschütterungen in den globalen Verflechtungen. Die Amerikaner haben damit begonnen – mit Strafzöllen, Exportkontrollen und der Schwächung der Welthandelsorganisation. Gleichzeitig untergräbt die chinesische Regierung mit ihrer aggressiven Industriepolitik unsere offenen Märkte und unser technologisches Knowhow. Akquisitionen im Ausland sind politisch gesteuert und durch Staatsbanken finanziert.
Zum Beispiel im Fall des Basler Agrochemiekonzerns Syngenta.
Das ist ein besonders markanter Fall. Ein chinesisches Staatsunternehmen, das finanziell schwer angeschlagen war, konnte für mehr als 40 Milliarden Franken Syngenta übernehmen. Ohne staatliche Finanzierungsgarantien hätte ChemChina nicht daran denken können, das Knowhow von Syngenta für China nutzbar zu machen. Diese Akquisition ist ein lupenreines industriepolitisches Projekt. «Return on Investment» spielte keine nachvollziehbare Rolle. Wir dürfen da nicht blauäugig sein. Solche Deals sind eine krasse Verzerrung aller Marktprinzipien.
Man hat lange gehofft, China werde sich mit der wirtschaftlichen Entwicklung auch politisch öffnen. Das ist nicht eingetreten.
Im Gegenteil. China hat eine Rolle rückwärts vollzogen, hin zu einer zentralistischen, leninistischen Struktur.
War man im Westen naiv?
Ich bin jetzt 35 Jahre in der Chinaforschung aktiv und habe die Entwicklung über Jahrzehnte beobachtet. Es gab eindeutige Pluralisierungstendenzen bis zur Finanzkrise 2008. Die Chinesen waren bis dahin der Ansicht, dass der Westen Lösungen hat für die Zukunft. Die Finanzkrise hat aus ihrer Sicht das Gegenteil bewiesen. Seither sind sie dezidiert auf einem eigenen Pfad. Xi Jinping hat das zugespitzt, weil er ein sehr ehrgeiziger politischer Führer ist. Seine Mission ist es, China zu einer Weltmacht zumachen.
Früher haben die Chinesen sich politisch zurückgehalten.
Jetzt sind sie auch im diplomatischen Umgang oft ziemlich rabiat. Sie treten mit harten Bandagen auf, völlig anders als noch vor zehn Jahren. Besonders gegenüber kleineren Ländern betreibt China oft eine knallharte Diplomatie. Auf sich allein gestellt können einzelne Länder dem nicht entgegentreten. Allianzenbildung mittels Europäischer Union oder internationaler Organisationen ist unabdingbar.