Die erste Frage ist in Ihrem Fall mehr als eine Floskel: Wie geht es Ihnen und Ihrer Familie?
Inna Melnykovska: Alle sind in Sicherheit, aber ein junger Verwandter ist mit der ukrainischen Armee in den Krieg gezogen und wurde verletzt. Er lebt noch, befindet sich aber im Spital. Dort zeigt sich eine Nebenerscheinung des Krieges. Weil viele Ärzte nicht mehr arbeiten können wie üblich, ist ein älterer Verwandter gestorben. Er fand keinen Platz in einem Spital. Es gibt in diesem Krieg direkte und indirekte Opfer.
In welchem Teil der Ukraine lebt ihre Familie?
Ich komme aus Tschortkiw im Westen des Landes. Die Stadt wollte dieses Jahr den 500. Jahrestag ihrer Gründung feiern. Das zeigt, wie der russische Präsident und die Regierung unsere Geschichte entstellen und manipulieren. Er behauptet, die Ukraine sei im frühen 20. Jahrhundert von Lenin erfunden worden. Aber sie hat eine viel längere Geschichte.
Was war Ihre Reaktion, als der Krieg vor einer Woche begann?
Ich war ehrlich gesagt nicht sehr überrascht. Es gab Anzeichen, dass es in diese Richtung gehen würde. Als Mensch hatte ich die Hoffnung, dass irgend ein Wunder geschehen und ein Einmarsch in diesem Ausmass verhindert werden könnte. Die Politikwissenschaftlerin in mir aber stellte fest, dass es sich um eine fast natürliche Entwicklung handelte, die sich seit Jahren abgezeichnet hatte. Es gab seit 2014 russische Angriffe und Interventionen in der Ukraine auf der Krim und in den östlichen Verwaltungsgebieten Donezk und Luhansk.
Viele in der Ukraine aber glaubten bis zuletzt, es gebe keine Invasion. Waren sie naiv?
Es war vor allem Hoffnung. Wir hatten so lange Frieden in Europa und dachten, er sei eine Tatsache, die niemand zerstören würde. Das war menschlich. Man spürt das noch jetzt. Manche argumentieren, dass der russische Präsident zwar verrückt sei, aber von den Eliten in seinem Umfeld und den Russen, die auf die Strasse gehen, gestoppt werden könne.
Sie glauben nicht daran?
Es ist wieder eine Hoffnungsfalle. Putins Handlungen geschehen im Einklang mit seinem inneren Kreis und den Eliten. Und es ist sehr unwahrscheinlich, dass wir auf den Strassen Proteste in grossem Ausmass sehen werden und das russische Volk einen Kurswechsel erzwingen kann. Umfragen zeigen eine hohe Zustimmung zu seiner Politik.
Wladimir Putin schien lange ziemlich rational zu sein. Er ging an Grenzen, hat sie aber nicht überschritten. Jetzt ist genau das passiert. Haben wir uns in ihm getäuscht?
Ja! Er hat die Grenze zur Ukraine schon 2014 überschritten. Er tat dies in Syrien, wo es viele zivile Opfer durch den Einsatz russischer Truppen gab. Wir wollten das einfach nicht wahrhaben und suchten nach einer Art Rechtfertigung, so lange es in überschaubaren Mass und weit weg von Europa geschah. Aber jetzt geschieht es in grossem Ausmass.
Wie interpretieren Sie das russische Vorgehen?
Die russische Regierung hat eine Strategie der kleinen Schritte angewendet, um ihre militärischen Mittel zu testen und sich auf Sanktionen vorzubereiten. Das gilt etwa für den Ausschluss aus dem Swift-Netzwerk. Russland hat schon vor ein paar Jahren eine Art Ersatzsystem entwickelt. Es ist kein vollständiger Ersatz, aber sie bereiteten sich vor.
Dann waren die Annexion der Krim und die Intervention in der Ostukraine 2014 eine Art Vorspiel für die heutige Invasion?
Aus der Perspektive des Regimes war dieses Vorgehen sehr rational. Es verschaffte ihm eine Art Legitimation für seinen Machtanspruch. Dieser basiert nicht auf wirtschaftlicher Macht oder einem effizienten Staat. Sondern auf der Vorstellung einer inneren und äusseren Bedrohung durch den Westen und die Nato. Und vor allem durch eine liberale Ordnung und die Möglichkeit, dass die Menschen in der Ukraine, die den Russen in mancher Hinsicht sehr ähnlich sind, den Beweis liefern könnten, dass Demokratisierung erfolgreich sein kann. Das ist nicht nur eine eingebildete Bedrohung wie im Fall der Nato, sondern eine sehr reale.
Putin scheint getrieben zu sein vom Ziel, das russische Imperium wiederzubeleben, inklusive Kleinrussland, wie er die Ukraine nennt. Was sagen Sie dazu?
Die Ukraine ist ein wichtiges Element in den geopolitischen Plänen der russischen Regierung. Ohne die Ukraine ist ein Integrationsprozess in der postsowjetischen Ära nicht realisierbar. Wir haben das 2014 erlebt, als der damalige Präsident Wiktor Janukowitsch beinahe gezwungen wurde, der Eurasischen Union beizutreten. Wenn so etwas nicht gelingt, erleben wir Dinge wie die Annexion der Krim und die Kämpfe in der Ostukraine. Oder die Untergrabung des Reformprozesses und der Integration der Ukraine in die Europäische Union.
Wird Putin sein Ziel erreichen?
Nur mit Gewalt und einer Marionettenregierung in Kiew, aber nicht durch den Willen des Volkes und einer legitimen Regierung. Sie haben ihre Wahl getroffen, und die ist auf eine europäische Zukunft gefallen.
Sie haben die Ereignisse seit 2014 erwähnt. War der Westen zu nachgiebig gegenüber Russland?
Es gab Signale aus dem Westen, dass man sich im Umgang mit Russland nicht einig war. Und dass wirtschaftliche Beziehungen unabhängig von geopolitischen Aspekten behandelt würden. Russland könne Öl und Gas liefern, ohne Konsequenzen befürchten zu müssen. Der Westen hat die Bedeutung dieser Handelsbeziehungen unterschätzt, und dass die Abhängigkeit von russischem Öl und Gas eine Bedrohung für die westliche Sicherheit darstellen könnte.
Sie haben in Harvard mit einem Stipendium studiert, das nach dem legendären US-Diplomaten George F. Kennan benannt ist. Russland-Freunde verweisen gerne auf seinen Essay von 1997, in dem er vor einer Nato-Osterweiterung und dem Aufstieg des russischen Nationalismus gewarnt hatte. Lag er vielleicht richtig?
Kennan dachte vermutlich in den Kategorien des Kalten Krieges. Nach dem Kollaps des Ostblocks und der Sowjetunion aber galt dieses Koordinatensystem nicht mehr. Die Nato hat die osteuropäischen Länder nicht zum Beitritt gezwungen, es war ihr Wunsch. Sie taten es aus Furcht vor der russischen Bedrohung und genau dem Szenario, das wir heute erleben. Die Ukraine ist ein gutes Beispiel. Vor der russischen Intervention 2014 gab es nie eine Mehrheit für einen Nato-Beitritt. Danach hat die Zustimmung stark zugenommen.
Unabhängig vom aktuellen Geschehen: Sollte die Ukraine der Nato beitreten?
Es ist nur ein Gedankenspiel. Aber wenn die Ukraine die Gelegenheit bekommen hätte, bestünde zumindest die Möglichkeit, dass es nicht zu diesem Krieg gekommen wäre.
Hat der Westen seit dem Ende des Kalten Kriegs im Umgang mit Russland Fehler gemacht?
Es gab einige Fehler, aber man kann nicht behaupten, dass es keine Angebote für eine Zusammenarbeit mit Russland gab. Es gab viele, bei der OSZE, im Europarat und sogar mit der Nato. Fast jede neue US-Regierung hat versucht, mit Russland in Europa zusammenzuarbeiten. Das gleiche gilt für die Europäische Union, besonders Deutschland. Die Fehler des Westens bestanden darin, die Warnsignale nicht ernst genommen zu haben. Russland war nicht an einer Zusammenarbeit interessiert, es hat den Konflikt gesucht.
Jetzt aber hat der Westen sehr rasch und heftig reagiert, mit Waffenlieferungen für die Ukraine und massiven Sanktionen. Was halten Sie davon?
Besser spät als nie! Wir dürfen aber nicht zu viel erwarten. Die Sanktionen können effektiv sein und dem Regime Ressourcen entziehen. Das könnte die Unterstützung in der Bevölkerung erodieren lassen und zu einem Konflikt mit der Wirtschaftselite führen. Aber diese Effekte dürften sich erst langfristig einstellen. Kurzfristig könnten die Sanktionen im Gegenteil zum Schulterschluss zwischen Regierung, Volk und Wirtschaft führen.
Was soll nach Ihrer Meinung noch gemacht werden?
Sanktionen sind nötig und wichtig, aber sie müssen durch ein direktes Eingreifen ergänzt werden. Wir haben russische Soldaten und Kämpfe in der Ukraine. Russische Panzer und Bomben können mit Sanktionen nicht gestoppt werden, es braucht auch Waffenlieferungen.
Die Sanktionen scheinen aber zu wirken und auch die russische Bevölkerung zu treffen. Der Rubel hat massiv an Wert verloren. Sogar die Regierung gibt zu, dass die Sanktionen schmerzhaft sind.
Das bedeutet nicht, dass daraus jene Handlungen entstehen, die wir uns wünschen. Es gibt aktuelle Umfragen des unabhängigen Lewada-Zentrums. Sie zeigen, dass Putins Popularität in den letzten Tagen zugenommen hat. Die Menschen spüren die Sanktionen in ihrem Portemonnaie, doch die russische Propaganda scheint immer noch zu wirken. Sie vermittelt den Eindruck, es gebe eine Bedrohung für das Land, die Leute müssten zusammenstehen.
Putin droht sogar mit Atomwaffen. Was soll man davon halten?
Die Bedrohung ist sehr real. Ich bin keine Militärexpertin, aber es besteht die Möglichkeit eines Atomwaffen-Einsatzes auf niedrigem Niveau. Gewisse Gebiete in der Ukraine könnten ins Visier genommen werden, ohne grössere Schäden für Russland. Ausserdem wurde in Tschernobyl gekämpft, und es gibt fünf aktive Nuklearanlagen in der Ukraine. Es könnte auch unabsichtlich etwas passieren. Die Frage ist, wie der Westen darauf reagieren würde.
Zum weiteren Verlauf des Krieges lassen sich kaum Prognosen machen. Aber derzeit sieht es so aus, als ob Putin aufs Ganze gehen und eine Eskalation anstreben würde.
Ich sehe das auch so. Es gibt das Angebot für Verhandlungen, aber die von Russland entsandten Leute und ihre Forderungen deuten darauf hin, dass es sich um bedeutungslose Gespräche handelt. Sie werden taktisch geführt, um gleichzeitig militärische Kräfte zu konzentrieren und koordinieren. Die Bombenangriffe wurden nicht eingestellt, als an der ukrainisch-belarussischen Grenze verhandelt wurde.
Sie scheinen nicht sehr optimistisch zu sein.
Gespräche allein werden nicht zu einem Kurswechsel in der russischen Politik führen. Der Westen muss ein klares Ziel haben: die internationale Ordnung und den Frieden wiederherzustellen. Solange das nicht geschieht, müssen die Sanktionen bleiben. Wir dürfen uns nicht dazu verleiten lassen, sie im Fall von Verhandlungen abzumildern. Appeasement hilft nicht.
Im Moment aber haben Sie keine grossen Hoffnungen für Ihre Landsleute.
Ich habe eine gespaltene Identität. Zum einen bin ich Politikwissenschaftlerin, und als solche sehe ich schwarz. Ich bin aber auch ein Mensch und hoffe auf eine Art Wunder. Meine Eltern leben in der Ukraine. Ich selbst habe jahrelang in Kiew gelebt und dort studiert. Wenn ich die Bilder der zerstörten Gebäude sehe, blutet mein Herz. Dennoch bin ich ein wenig optimistisch. Innerhalb weniger Tage sind Dinge geschehen, die man sich zuvor nicht vorstellen konnte.
Was meinen Sie damit?
Das Verhalten der ukrainischen Regierung und der Armee. Wie die Menschen den Widerstand organisieren. Und wie der Westen reagiert. Bis vor wenigen Tagen glaubte man, die Swift-Sanktionen oder der Kurswechsel in der deutschen Aussenpolitik wären unmöglich. Deshalb hoffe ich, dass es nicht zu spät ist und die Ukraine überleben wird.