Im Irak ist ein alter Machtkampf zwischen den politischen Eliten entbrannt – mittlerweile wurde das Parlament von Demonstranten gestürmt, die Neuwahlen fordern.
«Wir sind hier, weil die Politik uns unterdrückt, verfolgt und bestiehlt», empört sich ein Demonstrant gegenüber ARD. «Und wir sind so arm, aber leben im angeblich reichsten Land. Warum? Und wie lange soll das noch andauern?»
Ein Überblick:
Am Samstag besetzen vor allem Anhänger des einflussreichen schiitischen Geistlichen Muktada al-Sadr das Parlamentsgebäude in der Hauptstadt Bagdad.
Kurz zuvor hatten Sicherheitskräfte an der hoch gesicherten Grünen Zone noch versucht, Demonstranten mit Tränengas zurückzudrängen. Nach Behördenangaben gab es dabei mindestens 125 Verletzte. In der rund zehn Quadratkilometer grossen Zone im Zentrum Bagdads befinden sich zahlreiche Regierungsgebäude, das Parlament sowie mehrere Botschaften, darunter auch die diplomatische Vertretung der USA. Auf TV-Bildern war zu sehen, wie sich überwiegend junge Menschen im Plenarsaal aufhielten und Fotos von Al-Sadr in die Kameras hielten.
Mit ihrem von langer Hand geplanten Sitzstreik wollen die Demonstrierenden zum einen Druck auf die Politik ausüben, damit Neuwahlen angeordnet werden.
Zum anderen wollen die Anhänger der Al-Sadr-Bewegung verhindern, dass ihre politischen Gegner um Ex-Regierungschef Nuri al-Maliki eine Regierung bilden können.
Der 47 Jahre alte Al-Sadr gilt als kontroverse Figur: Nach dem Sturz des Regimes von Saddam Hussein im April 2003 bekämpfte seine Mahdi-Armee die US-Truppen. Heute gibt er sich gemässigter und tritt als eine Mischung aus Nationalist und Populist auf. Seine Anhänger leben vor allem in den ärmeren Vierteln Bagdads und anderer Städte.
Die Rivalen des 47 Jahre alten Religionsführers Al-Sadr hatten vor Kurzem einen eigenen Kandidaten als Premier vorgestellt: Mohammed Schia al-Sudani.
Doch aus Sicht Al-Sadrs steht der für das Amt vorgesehene ehemalige Minister Mohammed Schia al-Sudani dem Ex-Premier Al-Maliki viel zu nahe. Al-Sadr und Al-Maliki sind verfeindet.
Beide schiitischen Lager – also das von Al-Sadr sowie das von Al-Maliki – betrachten sich als Gegner. Der 72 Jahre alte Al-Maliki war nach dem Sturz von Langzeitdiktator Saddam Hussein von 2006 bis 2014 Regierungschef im Irak. Kritiker werfen ihm unter anderem vor, wegen schlechter Regierungsführung für den Erfolg der Terrormiliz Islamischer Staat (IS) verantwortlich zu sein.
Ausserdem sympathisieren Al-Maliki und dessen Allianz offen mit dem Nachbarland Iran. Al-Sadr wiederum möchte den Einfluss der Führung in Teheran zurückdrängen.
Das Bündnis um Al-Maliki protestierte scharf gegen den Sitzstreik: «Der Staat, seine Legitimität, die verfassungsmässigen Institutionen und der staatsbürgerliche Friede stehen auf dem Spiel», hiess es in einer Mitteilung.
Al-Sadrs Bewegung ging vor zehn Monaten als klarer Wahlsieger aus den Parlamentswahlen hervor. Jedoch konnte sie die wichtige Zweidrittelmehrheit nicht erreichen, die für die Präsidentenwahl erforderlich ist. Doch erst mit präsidialer Unterstützung kann eine neue Regierung gebildet werden.
Die vorgezogenen Parlamentswahlen im Oktober 2021 folgten auf Demonstrationen im Irak zwei Jahre zuvor, die sich unter anderem gegen die Korruption sowie die schlechte Wirtschaftslage und Infrastruktur richteten. In dem Land sind Zellen der IS-Terrormiliz weiter aktiv. Die Extremisten überrannten 2014 grosse Gebiete im Norden und Westen des Landes. Die Wahlbeteiligung fiel im Oktober auf ein Rekordtief von rund 41 Prozent.
Bisher wurde das Amt von einem Kurden ausgeübt, der Premier war immer ein Schiit und der Parlamentspräsident ein Sunnit. Wegen der Blockade im Parlament traten Abgeordnete der Sadr-Strömung geschlossen zurück – ein Schritt, der Beobachter auch verwunderte.
Der geschäftsführende Premierminister Mustafa al-Kasimi rief die politischen Lager erneut zum Dialog auf. «Ich appelliere an alle, Ruhe, Vernunft und Geduld walten zu lassen und sich nicht zur Machtprobe hinreissen zu lassen», so der Premier. «Tausend Tage stiller Dialog sind besser als eine Minute, in der ein Tropfen irakisches Blut vergossen wird.»
Der Sicherheitsexperte Ahmed al-Scherifi hält die Situation für gefährlich, da beide schiitischen Lager auch über bewaffnete Kräfte verfügen. «Die derzeitige irakische Regierung hat es versäumt, eine wichtige Rolle bei der Überwindung des politischen Stillstands und der Entflechtung der verfeindeten Kräfte zu spielen.»
In einem Artikel für die Denkfabrik Carnegie beschreibt der Experte Massaab Al-Aloosy die vielseitigen Probleme des Landes, darunter hohe Jugendarbeitslosigkeit, einen aufgeblähten Beamtenstaat sowie die Abhängigkeit der Wirtschaft vom Öl. «Es fehlt eine verantwortungsbewusste politische Elite, die bereit ist, ihre Differenzen zugunsten des öffentlichen Interesses beizulegen.»
Viele Iraker haben kaum noch Vertrauen in die Politik. Sie kritisieren vor allem die weit verbreitete Korruption. Im Parlament protestieren aber auch Menschen, die wegen des politischen Stillstands verärgert sind – in wirtschaftlich schlechten Zeiten mit steigenden Preisen.
(yam/sda/dpa)