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«Sie kommen in der Nacht»: Drei Frauen aus dem Iran teilen ihr Leid

«Sie kommen in der Nacht, um uns zu verhaften»: Drei Frauen aus dem Iran teilen ihr Leid

Der gewaltsame Tod der Iranerin Mahsa Amini am 16. September 2022 entfachte eine Protestwelle im ganzen Land. Die Regierung schlug die Unruhen brutal nieder. Drei Frauen, die im Iran leben, erzählen, wieso sie dennoch weiter kämpfen wollen.
16.09.2023, 08:25
Natasha Hähni / ch media
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Vor einem Jahr löste der Tod der jungen kurdischen Iranerin Mahsa Amini in Polizeigewahrsam monatelange Proteste aus. Die Bewegung stellte für die Hardliner-Regierung im Land die grösste Herausforderung seit Jahrzehnten dar.

Die Hoffnung, die Proteste würden in einem Machtwechsel enden, wurden bisher nicht erfüllt. Stattdessen gehen die Mullahs noch brutaler gegen die eigene Bevölkerung vor. Dennoch kämpfen viele Menschen im Iran auf unterschiedliche Weise weiter für ihre Freiheit.

Unter ihnen Leila, Mina und Ariana - die Namen wurden zum Schutz der Protagonistinnen alle abgeändert. Im Gespräch mit CH Media erzählen sie von verzweifelten Jugendlichen, die als Spitzel angeheuert werden, von Schüssen auf ihre Autos und der Angst, zurück ins Gefängnis zu müssen.

Leila, dreissig Jahre alt aus Teheran: «Am Samstag werde ich mich einer Demonstration anschliessen»

Als die Proteste vor einem Jahr losgingen, war ich voller Hoffnung auf Freiheit. Heute bin ich enttäuscht, weil die Welt uns nicht unterstützt. Im Moment sind die Strassen voller Patrouillen. Sie sind damit beschäftigt, den Leuten zu sagen, dass sie ihre Kopftücher anziehen sollen. Manchmal machen sie Fotos von denen, die keines tragen, um sie später zu bestrafen. Erst letzte Nacht habe ich eine Nachricht erhalten, in der stand, dass mein Auto beschlagnahmt wird.

Der Hijab störte mich schon lange. Seit Mahsas Ermordung habe ich ihn noch mehr abgelegt. Schon als Teenager wurde ich immer wieder festgenommen. Zuletzt bei einer Trauerfeier. Ich wurde mit verbundenen Augen an einen unbekannten Ort gebracht und durfte drei Tage lang keinen Kontakt mit meiner Familie aufnehmen. Danach wurde ich in das Ghartschak-Frauengefängnis gebracht. Die Bedingungen waren furchtbar. Während der Gerichtsverhandlung vor dem Revolutionsgericht übte der Richter so viel Druck auf mich aus, dass ich Nasenbluten bekam. Es war erniedrigend. Ich wurde schliesslich gegen Kaution freigelassen, ich hatte Glück.

An Demonstrationen müssen wir jeweils unsere Gesichter verhüllen, weil sie uns alle filmen und dann nachts zu Hause verhaften. Die Polizei zerstört die Fenster unserer Autos und schiesst auf Läden und Häuser, in denen wir Schutz suchen. Während Protesten im Verlauf des letzten Jahres wurde zwei Mal auf mein Auto geschossen.

epa10858504 Iranian women, some without the mandatory headscarf, walk in a street in Tehran, Iran, 13 September 2023. Iranians are marking the first anniversary of Mahsa Amini's death which led t ...
Müssen sich verhüllen: Frauen im Iran.Bild: keystone

Am Samstag werde ich mich mit meinen Freunden einer Demonstration anschliessen. Wir können aber nicht von Anfang an eine Gruppen bilden. Würden wir vereint auf die Strasse treten, würden sie uns gleich verhaften. Aber ich bin mir sicher, dass es Versammlungen geben wird. Ich hoffe, sie werden in allen Städten stattfinden und sich verbreiten. Sie behandeln uns wie den Feind. Aber wir werden schreien, solange wir leben: Frau, Leben, Freiheit.

Ariana, 35 Jahre alt, Mechanikerin, wohnt in einem Vorort von Teheran: «Ich glaube nicht, dass diese Bewegung bald erfolgreich sein wird»

Ich habe nie wirklich auf mein Kopftuch geachtet, auch, als ich noch in Teheran angestellt war. Deshalb geriet ich immer wieder in Schwierigkeiten mit der Personalabteilung. Heute arbeite ich in einem Vorort von Teheran als Mechanikerin. Ein Beruf, den fast keine Frau im Iran ausübt.

Seit Beginn der Proteste trage ich das Kopftuch nur noch an besonderen Anlässen oder Orten, wo ich ohne Kopftuch nicht hingehen darf. Ich habe die meisten meiner Schals weggeworfen. Wenn ich ohne Kopftuch erkannt werde, dann wird beispielsweise mein Auto abgeschleppt. Ich muss dann versprechen, nie mehr gegen die Kleidervorschriften zu verstossen, damit ich das Auto wieder bekomme.

Ich habe bisher an keinen offiziellen Protesten teilgenommen. Dennoch unterstütze ich sie. Ich verachte die Regierungsvertreter, die ihre Kinder in anderen Länder schicken, damit die in Wohlstand und Freiheit leben können. Auch wenn es ruhiger geworden ist, die Proteste dauern noch immer an. Sei es über Posts auf Instagram, Frauen die ohne Kopftuch unterwegs sind oder Künstler, die Protestkunst zeigen.

Aufgrund des Jahrestages von Mahsa Aminis Ermordung hat die Regierung schon seit ein paar Monaten strenge Sicherheitsmassnahmen eingeführt, und es wurden schon viele Leute verhaftet. Gerade heute auf dem Weg nach Hause sind etwa dreissig beängstigende, riesige schwarze Polizeifahrzeuge an mir vorbeigefahren, um sich auf den Hauptplätzen der Stadt aufzustellen.

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Video: watson/lucas zollinger

Ich glaube nicht, dass diese Bewegung bald erfolgreich sein wird. Aber ich weiss, dass die notwendigen Grundlagen für den Erfolg gelegt wurden. Die neuen Generationen sind immer mutiger. Sie werden nicht mehr unter der Last von Zwang und religiösen Lügen leiden, da bin ich mir sicher.

Mina, 42 Jahre alt, wohnt in einem Städtchen im Süden des Landes: «Die Regierung heuert junge Leute als Spitzel an»

Es war das schwierigste Jahr meines Lebens. Nachdem ich Ende des letzten Jahres aus der Haft entlassen worden war, war ich einen Monat lang unter Hausarrest. Damals habe ich die Nachrichten täglich verfolgt. Ich wurde traurig, weil ich wusste, dass ich nicht mehr an den Protesten teilnehmen kann.

Die iranische Polizei hat allen, die auf Kaution frei sind, Warnungen per SMS oder E-Mail geschickt. Darin stand, dass wir überwacht werden und bei der geringsten Missachtung der Regeln zurück ins Gefängnis geschickt werden können. Trotzdem werde ich mich natürlich immer weiter für die Freiheit einsetzen.

Iranian police officers stand guard during a protest against Sweden in front of the Swedish Embassy in Tehran, Iran, Friday, July 21, 2023. Thousands of people took to the streets in a handful of Musl ...
Die iranische Polizei. Bild: keystone

Vor den Protesten trug ich ein Kopftuch. Heute trage ich es nur noch während der Arbeit, weil ich muss. Sobald die Arbeit vorbei ist, zieh ich es aus. Die Kopftuchpflicht ging mir schon immer gegen den Strich. Bei der Arbeit ist mir aufgefallen, wie viele Menschen so tun, als wäre im letzten Jahr nichts passiert. Ich frage mich, wie das Verschwinden so vieler Menschen so vielen egal sein kann. Ich weiss heute viel weniger über die Leute rund um mich herum als früher.

Im Vergleich zu vor einem Jahr hat sich die Protestbewegung stark beruhigt, auch weil die finanzielle Situation wegen der Inflation im Land sehr schlecht ist. Die Regierung nutzt das aus, indem sie zum Beispiel junge Leute als Spitzel anheuert. Die laufen dann auf öffentlichen Plätzen herum und melden der Polizei Personen, die sich negativ gegenüber der Regierung äussern. Das ist der dreckigste Job, den es gibt.

Derzeit planen viele Leute wieder Demonstrationen. Dabei werden erneut unschuldige Menschen sterben, nur um frei zu sein. Das ist ein schmerzhafter Gedanke. Ich würde gerne so lange leben, dass ich die Freiheit noch erleben und geniessen kann. (aargauerzeitung.ch)

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Die Gesichter des Protestes gegen das Regime in Iran
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Die Gesichter des Protestes gegen das Regime in Iran
Der Auslöser für die Proteste war der Tod der jungen Kurdin Mahsa Amini. Die 22-Jährige starb wohl, weil sie ihr Kopftuch nicht so getragen hatte, wie die iranischen Mullahs und das iranische Gesetz es für Frauen vorsehen. Die genauen Umstände ihres Todes sind noch unklar. Amini wurde zu einer Ikone im Kampf für Freiheit.
quelle: keystone / abedin taherkenareh
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25 Kommentare
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Kollani
16.09.2023 09:37registriert Januar 2017
Danke, dass ihr darüber berichtet! Ihre Stimmen müssen Gehör finden, auch wenn es um die Berichterstattung ruhiger geworden ist. Ich wünsche ihnen so sehr, dass sie ihre Freiheit erlangen. Hier sieht man aber, wie schwierig es ist, gegen eine Diktatur anzukämpfen.
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chicadeltren
16.09.2023 09:03registriert Dezember 2015
Meinen grössten Respekt für diese jungen Frauen! Es braucht soo viel Mut, sich unter solchen Umständen zu wehren. Ich wünschte, weitere Teile der Bevölkerung würden mitmachen. Dann wäre es irgendwann unmöglich fürs Regime, in dieser Art gegen die Proteste durchzugehen.
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