International
Israel

Israels Regierung berät offenbar über Stopp der Justizreform

Israelis opposed to Prime Minister Benjamin Netanyahu's judicial overhaul plan set up bonfires and block a highway during a protest moments after the Israeli leader fired his defense minister, in ...
Die Proteste in Israel nehmen ein neues Ausmass an.Bild: keystone

Israels Regierung nach heftigen Protesten unter massivem Druck – die Lage in 7 Punkten

Die Proteste in Israel erreichen die nächste Stufe. Bis zu 600'000 Menschen protestieren gegen die umstrittene Justizreform. Jetzt wurde ein Generalstreik ausgerufen, sollte die Regierung ihre Pläne nicht ändern. Doch mehrere Minister sollen bereits drohen, zurückzutreten, sollte Netanjahu einen Stopp der Reform ankündigen.
27.03.2023, 05:3328.03.2023, 07:08
Folge mir
Mehr «International»

Israels Regierung soll über den Stopp der höchst umstrittenen Justizreform beraten, nachdem es in der Nacht auf Montag zu heftigen Protesten im Land gekommen ist. Das berichtete die «Jerusalem Post» am frühen Montagmorgen. Der Präsident des Landes, Izchak Herzog, rief die von Ministerpräsident Benjamin Netanjahu geführte regierende Koalition danach offiziell zur Einstellung der Gesetzgebung auf:

«Um der Einheit des israelischen Volkes willen, um der Verantwortung willen, fordere ich Sie auf, die Gesetzgebung sofort einzustellen.»

Zuvor war es nach der Entlassung des kritischen Verteidigungsministers Joaw Galant zu einer deutlichen Verschärfung der Proteste im Land gekommen. Eine Übersicht über die Ereignisse der vergangenen 48 Stunden:

Das ist passiert

Israel wird von den heftigsten Protesten seit deren Beginn vor einigen Wochen erschüttert. Grund ist die Entlassung von Verteidigungsminister Joaw Galant am Sonntagabend. Galant äusserte sich kritisch zu der höchst umstrittenen Justizreform und wurde von Ministerpräsident Benjamin Netanjahu deshalb am Sonntagabend des Amtes enthoben.

In der Nacht auf Montag verschärften sich die Proteste deswegen deutlich – israelische Medien berichten von insgesamt bis zu 600'000 Menschen, die in Städten im ganzen Land auf die Strasse gehen und ihren Unmut kundtun. Bei den Protesten kam es auch zu Scharmützeln mit der teilweise überforderten Polizei.

Am Montagmittag rief Netanjahu via Twitter die Demonstrierenden dazu auf, friedlich zu bleiben:

Ich rufe alle Demonstrierenden in Jerusalem auf, rechts und links, sich verantwortungsvoll zu verhalten und nicht gewalttätig zu werden. Wir sind brüderliche Menschen.

Beobachter befürchten mittlerweile, dass die Lage im Land komplett eskalieren könnte, sollte die Justizreform von der erzkonservativen rechtsreligiösen Regierung nicht gestoppt werden. Netanjahus Vorgänger im Amt des Ministerpräsidenten, Naftali Bennett, sieht sein Land in der gefährlichsten Situation seit dem Jom-Kippur-Krieg im Jahr 1973. Es wird zudem auch befürchtet, dass die zahlreichen Israel feindlich gesinnten Länder und Gruppierungen in der Region die innenpolitisch fragile Situation für Angriffe nutzen könnten.

Die Entlassung von Joaw Galant

Joaw Galant ist ein ehemaliger hochrangiger Militär und amtete seit Dezember 2022 als Verteidigungsminister der israelischen Regierung. Der 64-Jährige, der wie Ministerpräsident Netanjahu der konservativen Likud-Partei angehört, sprach sich am Wochenende für eine Aussetzung der geplanten Justizreform als Reaktion auf den Druck von der Strasse aus. Er regte an, in den Dialog mit den Protestierenden zu treten.

epa10493564 Minister of Defence of Israel, Yoav Galant, visits the scene of a shooting attack in the West Bank town of Hawera after a shooting attack the day before in which two Israelis were killed,  ...
Joaw Galant war gegen die Justizreform – und musste deshalb seinen Posten räumen. Bild: keystone

Die Ankündigung Galants kam überraschend, da die Regierung trotz der grossen und andauernden Proteste stets geschlossen hinter der Umsetzung der Reform stand. Zudem stand die Umsetzung einiger Kernelemente der Reform unmittelbar bevor, Netanjahus Rechtskoalition wollte diese in den kommenden Tagen verankern.

Galant warnte, dass die nationale Sicherheit des Landes schweren Schaden nehmen könnte, sollten die Reformpläne ohne Rücksicht durchgedrückt werden. Der Verteidigungsminister verwies unter anderem darauf, dass sich insbesondere auch in der Armee Widerstand gegen die Justizreform regt. So sind zahlreiche Reservisten aus Protest nicht zum Dienst erschienen.

Als Reaktion auf die Kritik Galants entband ihn Netanjahu von seinem Amt als Verteidigungsminister, wie am Sonntagabend bekannt wurde.

Die aktuellen Proteste

Die Entlassung führte aber keineswegs zu einer Stabilisierung der Situation. Im Gegenteil, die Proteste in den vergangenen Stunden verschärften sich aus Solidarität mit Galant deutlich.

Besonders in der an der Mittelmeerküste gelegenen Grossstadt Tel Aviv kam es zu massiven Protestbekundungen. Unzählige Demonstranten blockierten dort die zentrale Strasse nach Jerusalem im Zentrum des Landes. Dabei kam es auch zu Scharmützeln, Vandalismus und Brandstiftungen. Die Polizei ging mit Reiterstaffeln und Wasserwerfern gegen die Menge vor, aus der Steine und anderes in Richtung der Einsatzkräfte flogen. Auf Videos und Bildern in den sozialen Medien ist zu sehen, dass die Polizei teilweise massiv überfordert mit der schieren Masse der Menschen war.

Unbestätigten Berichten zufolge sollen sich teils auch Beamte und Polizeichefs den Protestierenden angeschlossen haben.

Doch auch in anderen Städten gab es starke Protestbekundungen. In Jerusalem durchbrachen wütende Menschen eine Strassensperre in der Nähe des Wohnhauses von Benjamin Netanjahu.

Zuvor verkündeten bereits mehrere israelische Universitäten aus Protest gegen die Entlassung Galants und die Reformpläne einen vorläufigen Unterrichtsstopp. Mehrere Bürgermeister traten in den Hungerstreik und forderten eine sofortige Eindämmung der nationalen Krise.

Der Generalstreik

Der Dachverband der Gewerkschaften in Israel (Histadrut) hat am Montag vor dem Hintergrund der massiven Proteste gegen die umstrittene Justizreform zu einem Generalstreik aufgerufen. Betroffen ist auch der internationale Flughafen Ben Gurion bei Tel Aviv.

«Ich habe den sofortigen Startstopp am Flughafen angeordnet», sagte der Leiter der Arbeitergewerkschaft am Flughafen Ben Gurion, Pinchas Idan. Es wird erwartet, dass Zehntausende von den Flugänderungen betroffen sind.

Histadrut rief zu dem «historischen» Arbeitsstreik auf, um «den Wahnsinn» der umstrittenen Justizreform der Regierung zu stoppen. Der Streik werde beginnen, sollte Ministerpräsident Benjamin Netanjahu keinen Stopp der Reformpläne ankündigen.

Darum geht es bei der Justizreform

Bei der Reform, die von der seit drei Monaten regierenden Rechtskoalition angestrebt wird, geht es um die Umkrempelung des israelischen Justizsystems. Mit der Umsetzung würde die Position der Gerichte geschwächt, jene der Politik gestärkt. Das Parlament soll demnach künftig mit einfacher Mehrheit Entscheidungen des Höchsten Gerichts aufheben können, zudem soll der Ministerpräsident stärker vor einer Amtsenthebung geschützt werden.

Demonstrierende wie auch Kritiker aus anderen Ländern sehen in der Reform den Versuch, die Demokratie in Israel zu schwächen, indem die Gewaltenteilung verwässert wird. Unter anderem wird gar davon gesprochen, dass es bei einer allfälligen Umsetzung der Reform zu diktatorischen Zügen im System Israels kommen könnte.

Die Reaktionen

Auch aus den USA, dem wichtigsten und mächtigsten Verbündeten Israels, gibt es Bedenken ob der Reform. In einer Stellungnahme zeigte sich das Weisse Haus «tief besorgt» wegen der Pläne. Die geplanten «grundlegenden Änderungen an einem demokratischen System» sollten überdacht werden, zudem forderten die USA mit Nachdruck, «so bald wie möglich einen Kompromiss zu finden».

Nebst den Reaktionen aus dem Ausland gibt es auch deutliche Kritik von Israels Oppositionspolitikern. So forderten Ex-Ministerpräsident Jair Lapid und Ex-Verteidigungsminister Benny Gantz Netanjahus Likud-Parteikollegen in einer gemeinsamen Mitteilung auf, «sich nicht an der Zerstörung der nationalen Sicherheit zu beteiligen». Der Regierungschef habe «eine rote Linie überschritten».

epa10464944 Former Israeli PM Yair Lapid prior to his address to protesters during an anti-government rally next to the Israeli parliament in Jerusalem, 13 February 2023. Israeli activists are protest ...
Jair Lapid appelliert an Netanjahus Parteikollegen.Bild: keystone

Der ehemalige Ministerpräsident Naftali Bennett warnte, Israel befinde sich in der grössten Gefahr seit dem Jom-Kippur-Krieg 1973. Arabische Staaten hatten Israel damals überraschend am höchsten jüdischen Feiertag angegriffen. Bennett rief Netanjahu dazu auf, die Entlassung Galants zurückzunehmen, die Reform auszusetzen und einen Dialog mit den Gegnern aufzunehmen. Die Demonstranten ermahnte er, keine Gewalt anzuwenden und Blutvergiessen zu verhindern. «Wir sind Brüder», schrieb Bennett.

Wie geht es weiter?

Tatsächlich scheint der Rückhalt für Netanjahu in seiner eigenen Partei zu bröckeln. Die öffentliche Kritik von Ex-Verteidigungsminister Galant ist ein deutliches Indiz dafür. Einem Bericht der israelischen Zeitung «The Jerusalem Post» zufolge, setzen sich zudem inzwischen weitere Likud-Politiker dafür ein, die Justizreform zu stoppen. Laut der Zeitung «Haaretz» fordern einflussreiche Parteigrössen den Rücktritt von Justizminister Yariv Levin, der sein politisches Schicksal mit der Reform verknüpft hat.

Angesichts der brenzligen Lage hielt Netanjahu eine Dringlichkeitssitzung zum weiteren Vorgehen ab. Mit Koalitionspolitikern soll er über eine mögliche Aussetzung des Reformvorhabens beraten haben. Demnach plante Netanjahu noch am Montag eine Rede an die Nation. Die nach Medienberichten ursprünglich für 09.00 Uhr (MESZ) geplante Ansprache verzögerte sich am Vormittag. Hintergrund soll ein Streit innerhalb der Koalition sein. Demnach kündigten mehrere Minister an, zurücktreten zu wollen, sollte Netanjahu einen Stopp der Reform ankündigen.

Netanjahus seit drei Monaten amtierende Koalition – die am weitesten rechts stehende, die das Land je hatte – wollte Kernelemente der Reform eigentlich in den kommenden Tagen umsetzen. Ob die Abstimmung über das Gesetz nun wie geplant am Montag stattfinden wird, war durch die jüngsten Ereignisse unklar.

Mit Material der Nachrichtenagenturen SDA und DPA.

DANKE FÜR DIE ♥
Würdest du gerne watson und unseren Journalismus unterstützen? Mehr erfahren
(Du wirst umgeleitet, um die Zahlung abzuschliessen.)
5 CHF
15 CHF
25 CHF
Anderer
twint icon
Oder unterstütze uns per Banküberweisung.
Das könnte dich auch noch interessieren:
44 Kommentare
Weil wir die Kommentar-Debatten weiterhin persönlich moderieren möchten, sehen wir uns gezwungen, die Kommentarfunktion 24 Stunden nach Publikation einer Story zu schliessen. Vielen Dank für dein Verständnis!
Die beliebtesten Kommentare
avatar
ChriLu14
27.03.2023 07:07registriert Mai 2022
Das passiert, wenn ein korrupter Autokrat ein ganzes Land in Geiselhaft nimmt, um seinen eigenen A... zu retten..
1534
Melden
Zum Kommentar
avatar
Majoras Maske
27.03.2023 07:18registriert Dezember 2016
Ich hoffe die Reform wird verhindert, und dass sich der Protest der Zivilbevölkerung auszahlt. Weiter wär es schön, wenn deswegen auch die Regierung gestürzt wird und Netanjahu dort landet wo er hingehört, vor eine unabhängige Justiz, deren Urteile nicht von Politikern gekippt werden können.
1435
Melden
Zum Kommentar
avatar
B-Arche
27.03.2023 07:20registriert Februar 2016
Der israelische Generalkonsul Asaf Zamir hier in New York ist aus Protest vor wenigen Stunden ebenfalls zurückgetreten.
984
Melden
Zum Kommentar
44
US-Tiktok-Verbot rückt näher – doch Trump scheint seine Meinung geändert zu haben
Washington macht Ernst: Die Videoplattform Tiktok könnte in den USA bald verboten werden, weil sie ein Sicherheitsrisiko darstelle. Tiktok will sich wehren. Aber der Druck wächst, auch in Europa. Hier argumentiert man mit der psychischen Gesundheit von Jugendlichen.

Die Zeit läuft. Maximal 360 Tage hat die Besitzerin von Tiktok nun Zeit, um sich von der populären Videoplattform zu trennen – sonst droht ein Tiktok-Verbot in den USA. So hat es am Dienstag nach dem Repräsentantenhaus auch der Senat in Washington beschlossen. Die politische Debatte ist damit vorerst zu Ende, Tiktok hat trotz massiver Lobby-Ausgaben verloren.

Zur Story