Israels Regierung soll über den Stopp der höchst umstrittenen Justizreform beraten, nachdem es in der Nacht auf Montag zu heftigen Protesten im Land gekommen ist. Das berichtete die «Jerusalem Post» am frühen Montagmorgen. Der Präsident des Landes, Izchak Herzog, rief die von Ministerpräsident Benjamin Netanjahu geführte regierende Koalition danach offiziell zur Einstellung der Gesetzgebung auf:
Zuvor war es nach der Entlassung des kritischen Verteidigungsministers Joaw Galant zu einer deutlichen Verschärfung der Proteste im Land gekommen. Eine Übersicht über die Ereignisse der vergangenen 48 Stunden:
Israel wird von den heftigsten Protesten seit deren Beginn vor einigen Wochen erschüttert. Grund ist die Entlassung von Verteidigungsminister Joaw Galant am Sonntagabend. Galant äusserte sich kritisch zu der höchst umstrittenen Justizreform und wurde von Ministerpräsident Benjamin Netanjahu deshalb am Sonntagabend des Amtes enthoben.
In der Nacht auf Montag verschärften sich die Proteste deswegen deutlich – israelische Medien berichten von insgesamt bis zu 600'000 Menschen, die in Städten im ganzen Land auf die Strasse gehen und ihren Unmut kundtun. Bei den Protesten kam es auch zu Scharmützeln mit der teilweise überforderten Polizei.
Am Montagmittag rief Netanjahu via Twitter die Demonstrierenden dazu auf, friedlich zu bleiben:
אני קורא לכל המפגינים בירושלים, מימין ומשמאל, לנהוג באחריות ולא לפעול באלימות. אנשים אחים אנחנו.
— Benjamin Netanyahu - בנימין נתניהו (@netanyahu) March 27, 2023
Beobachter befürchten mittlerweile, dass die Lage im Land komplett eskalieren könnte, sollte die Justizreform von der erzkonservativen rechtsreligiösen Regierung nicht gestoppt werden. Netanjahus Vorgänger im Amt des Ministerpräsidenten, Naftali Bennett, sieht sein Land in der gefährlichsten Situation seit dem Jom-Kippur-Krieg im Jahr 1973. Es wird zudem auch befürchtet, dass die zahlreichen Israel feindlich gesinnten Länder und Gruppierungen in der Region die innenpolitisch fragile Situation für Angriffe nutzen könnten.
Joaw Galant ist ein ehemaliger hochrangiger Militär und amtete seit Dezember 2022 als Verteidigungsminister der israelischen Regierung. Der 64-Jährige, der wie Ministerpräsident Netanjahu der konservativen Likud-Partei angehört, sprach sich am Wochenende für eine Aussetzung der geplanten Justizreform als Reaktion auf den Druck von der Strasse aus. Er regte an, in den Dialog mit den Protestierenden zu treten.
Die Ankündigung Galants kam überraschend, da die Regierung trotz der grossen und andauernden Proteste stets geschlossen hinter der Umsetzung der Reform stand. Zudem stand die Umsetzung einiger Kernelemente der Reform unmittelbar bevor, Netanjahus Rechtskoalition wollte diese in den kommenden Tagen verankern.
Galant warnte, dass die nationale Sicherheit des Landes schweren Schaden nehmen könnte, sollten die Reformpläne ohne Rücksicht durchgedrückt werden. Der Verteidigungsminister verwies unter anderem darauf, dass sich insbesondere auch in der Armee Widerstand gegen die Justizreform regt. So sind zahlreiche Reservisten aus Protest nicht zum Dienst erschienen.
Als Reaktion auf die Kritik Galants entband ihn Netanjahu von seinem Amt als Verteidigungsminister, wie am Sonntagabend bekannt wurde.
Die Entlassung führte aber keineswegs zu einer Stabilisierung der Situation. Im Gegenteil, die Proteste in den vergangenen Stunden verschärften sich aus Solidarität mit Galant deutlich.
A spontaneous and massive protest spread this evening all over Israel, following Netanyahu's decision to fire Defense Minister Gallant. Tens of thousands blocked for long hours The Ayalon highways, the most important road in the country (I took this video there at around 2 am). pic.twitter.com/8sp5H1FffJ
— Ronen Bergman (@ronenbergman) March 27, 2023
Besonders in der an der Mittelmeerküste gelegenen Grossstadt Tel Aviv kam es zu massiven Protestbekundungen. Unzählige Demonstranten blockierten dort die zentrale Strasse nach Jerusalem im Zentrum des Landes. Dabei kam es auch zu Scharmützeln, Vandalismus und Brandstiftungen. Die Polizei ging mit Reiterstaffeln und Wasserwerfern gegen die Menge vor, aus der Steine und anderes in Richtung der Einsatzkräfte flogen. Auf Videos und Bildern in den sozialen Medien ist zu sehen, dass die Polizei teilweise massiv überfordert mit der schieren Masse der Menschen war.
Another video from Israel of police clearing protesters from Ayalon highway in Tel Aviv https://t.co/SqIN3f3Ato
— Steve Lookner (@lookner) March 27, 2023
Unbestätigten Berichten zufolge sollen sich teils auch Beamte und Polizeichefs den Protestierenden angeschlossen haben.
⚡️#BREAKING The police chief of the Tel Aviv district joined the demonstrations against Netanyahu pic.twitter.com/YoAr3qJO3S
— War Monitor (@WarMonitors) March 26, 2023
Doch auch in anderen Städten gab es starke Protestbekundungen. In Jerusalem durchbrachen wütende Menschen eine Strassensperre in der Nähe des Wohnhauses von Benjamin Netanjahu.
Zuvor verkündeten bereits mehrere israelische Universitäten aus Protest gegen die Entlassung Galants und die Reformpläne einen vorläufigen Unterrichtsstopp. Mehrere Bürgermeister traten in den Hungerstreik und forderten eine sofortige Eindämmung der nationalen Krise.
Der Dachverband der Gewerkschaften in Israel (Histadrut) hat am Montag vor dem Hintergrund der massiven Proteste gegen die umstrittene Justizreform zu einem Generalstreik aufgerufen. Betroffen ist auch der internationale Flughafen Ben Gurion bei Tel Aviv.
«Ich habe den sofortigen Startstopp am Flughafen angeordnet», sagte der Leiter der Arbeitergewerkschaft am Flughafen Ben Gurion, Pinchas Idan. Es wird erwartet, dass Zehntausende von den Flugänderungen betroffen sind.
Histadrut rief zu dem «historischen» Arbeitsstreik auf, um «den Wahnsinn» der umstrittenen Justizreform der Regierung zu stoppen. Der Streik werde beginnen, sollte Ministerpräsident Benjamin Netanjahu keinen Stopp der Reformpläne ankündigen.
Bei der Reform, die von der seit drei Monaten regierenden Rechtskoalition angestrebt wird, geht es um die Umkrempelung des israelischen Justizsystems. Mit der Umsetzung würde die Position der Gerichte geschwächt, jene der Politik gestärkt. Das Parlament soll demnach künftig mit einfacher Mehrheit Entscheidungen des Höchsten Gerichts aufheben können, zudem soll der Ministerpräsident stärker vor einer Amtsenthebung geschützt werden.
Demonstrierende wie auch Kritiker aus anderen Ländern sehen in der Reform den Versuch, die Demokratie in Israel zu schwächen, indem die Gewaltenteilung verwässert wird. Unter anderem wird gar davon gesprochen, dass es bei einer allfälligen Umsetzung der Reform zu diktatorischen Zügen im System Israels kommen könnte.
Auch aus den USA, dem wichtigsten und mächtigsten Verbündeten Israels, gibt es Bedenken ob der Reform. In einer Stellungnahme zeigte sich das Weisse Haus «tief besorgt» wegen der Pläne. Die geplanten «grundlegenden Änderungen an einem demokratischen System» sollten überdacht werden, zudem forderten die USA mit Nachdruck, «so bald wie möglich einen Kompromiss zu finden».
Nebst den Reaktionen aus dem Ausland gibt es auch deutliche Kritik von Israels Oppositionspolitikern. So forderten Ex-Ministerpräsident Jair Lapid und Ex-Verteidigungsminister Benny Gantz Netanjahus Likud-Parteikollegen in einer gemeinsamen Mitteilung auf, «sich nicht an der Zerstörung der nationalen Sicherheit zu beteiligen». Der Regierungschef habe «eine rote Linie überschritten».
Der ehemalige Ministerpräsident Naftali Bennett warnte, Israel befinde sich in der grössten Gefahr seit dem Jom-Kippur-Krieg 1973. Arabische Staaten hatten Israel damals überraschend am höchsten jüdischen Feiertag angegriffen. Bennett rief Netanjahu dazu auf, die Entlassung Galants zurückzunehmen, die Reform auszusetzen und einen Dialog mit den Gegnern aufzunehmen. Die Demonstranten ermahnte er, keine Gewalt anzuwenden und Blutvergiessen zu verhindern. «Wir sind Brüder», schrieb Bennett.
Tatsächlich scheint der Rückhalt für Netanjahu in seiner eigenen Partei zu bröckeln. Die öffentliche Kritik von Ex-Verteidigungsminister Galant ist ein deutliches Indiz dafür. Einem Bericht der israelischen Zeitung «The Jerusalem Post» zufolge, setzen sich zudem inzwischen weitere Likud-Politiker dafür ein, die Justizreform zu stoppen. Laut der Zeitung «Haaretz» fordern einflussreiche Parteigrössen den Rücktritt von Justizminister Yariv Levin, der sein politisches Schicksal mit der Reform verknüpft hat.
Angesichts der brenzligen Lage hielt Netanjahu eine Dringlichkeitssitzung zum weiteren Vorgehen ab. Mit Koalitionspolitikern soll er über eine mögliche Aussetzung des Reformvorhabens beraten haben. Demnach plante Netanjahu noch am Montag eine Rede an die Nation. Die nach Medienberichten ursprünglich für 09.00 Uhr (MESZ) geplante Ansprache verzögerte sich am Vormittag. Hintergrund soll ein Streit innerhalb der Koalition sein. Demnach kündigten mehrere Minister an, zurücktreten zu wollen, sollte Netanjahu einen Stopp der Reform ankündigen.
Netanjahus seit drei Monaten amtierende Koalition – die am weitesten rechts stehende, die das Land je hatte – wollte Kernelemente der Reform eigentlich in den kommenden Tagen umsetzen. Ob die Abstimmung über das Gesetz nun wie geplant am Montag stattfinden wird, war durch die jüngsten Ereignisse unklar.
Mit Material der Nachrichtenagenturen SDA und DPA.