Während sich Israels Armee im Gazastreifen weiter heftige Kämpfe mit der islamistischen Hamas liefert, droht im eigenen Land eine Staatskrise. Israels Oberstes Gericht hat mit seiner Entscheidung vom Montag, ein Kernelement der umstrittenen Justizreform in dem Land zu kippen, dem ohnehin angeschlagenen Ministerpräsidenten Benjamin Netanjahu einen weiteren innenpolitischen Schlag versetzt. Ob sich dies auf die weitere Kriegsführung auswirkt, ist ungewiss. Die Armee stellt sich jedenfalls auf einen noch langen Kampf gegen die Hamas ein, auch wenn sie einstweilen einige ihrer Reservisten von der Front nun abzieht.
«Die Gerichtsentscheidung widerspricht dem Willen des Volkes nach Einigkeit, vor allem in Zeiten des Krieges», kritisierte Netanjahus rechtskonservative Likud-Partei. Das Gericht hatte zuvor eine Grundgesetzänderung der Regierung für nichtig erklärt, die ihm die Möglichkeit genommen hatte, gegen «unangemessene» Entscheidungen der Regierung vorzugehen. Kritiker sahen darin eine Gefahr für Israels Demokratie. Monatelang war es zu Massenprotesten gekommen. Der israelische Armeesprecher Daniel Hagari sagte am Montag, die Hamas habe ihren Überfall möglicherweise auch deshalb am 7. Oktober ausgeführt, weil sie die israelische Gesellschaft im Chaos wähnte.
Unterdessen feuerte die Armee nach eigenen Angaben in Reaktion auf erneuten Raketenbeschuss aus Syrien und dem Libanon zurück. Wie sie Montagabend mitteilte, flogen fünf aus Syrien abgeschossene Raketen nach Israel und gingen in offenem Gelände nieder. Kampfflugzeuge hätten daraufhin die Abschussorte angegriffen. An Israels nördlicher Grenze habe zudem ein Kampflugzeug «terroristische Infrastruktur» der Hisbollah-Miliz im Libanon getroffen. Von dort aus seien am Montag Raketen in Richtung einer nordisraelischen Siedlung abgefeuert worden, hiess es weiter.
Seit dem Beginn des Gaza-Kriegs nach dem Massaker von Terroristen der islamistischen Hamas und anderer extremistischer Gruppen in Israel am 7. Oktober kommt es immer wieder zu Konfrontationen zwischen Israels Armee und der Hisbollah in der Grenzregion. Die Sicherheitslage in der gesamten Region ist seit dem Beginn des Gaza-Krieges sehr angespannt. Auch die Gefahr einer Ausweitung des Konflikts wächst. Die USA haben Israel dazu gedrängt, in Gaza von der intensiven Phase mit heftigen Bombardierungen zu gezielteren Schlägen gegen die Hamas überzugehen.
Die Zeitung «New York Times» zitierte in der Nacht zum Dienstag Militäranalysten und US-Beamte, wonach der von Israels Armee angekündigte zumindest einstweilige Abzug einiger Reservisten von der Front wahrscheinlich signalisiere, dass ein solcher Phasenwechsel nun begonnen habe. Angesichts der katastrophalen humanitären Lage in dem abgeriegelten Küstengebiet und der hohen Zahl ziviler Opfer geriet Israel zuletzt international immer mehr in die Kritik.
Der UN-Hochkommissar für Menschenrechte, Volker Türk, sieht in dem Krieg Anzeichen für Kriegsverbrechen und womöglich Verbrechen gegen die Menschlichkeit. Er nennt auf der Seite der Palästinenser den Terrorüberfall auf Israel am 7. und 8. Oktober, das wahllose Abfeuern von Geschossen auf Israel und das militärische Agieren aus zivilen Einrichtungen heraus. Zu Israel sagte Türk der Deutschen Presse-Agentur in Genf: «Wenn man sich anschaut, wie Israel darauf reagiert hat, da habe ich schwere Bedenken, was die Einhaltung sowohl der Menschenrechte als auch des internationalen humanitären Rechts betrifft.»
Bei den schweren israelischen Bombardierungen seien 70 Prozent der Betroffenen Frauen und Minderjährige. «Man kann davon ausgehen, dass der Grossteil von denen, die getroffen worden sind, Zivilisten sind», sagte der Österreicher der DPA. «Darüber hinaus ist eine kollektive Bestrafung der Palästinenser ein Kriegsverbrechen. Natürlich müssen letztlich Gerichte beurteilen, wer welche Straftaten begangen hat.»
Die Zahl der getöteten Palästinenser beläuft sich nach Angaben der von der Hamas kontrollierten Gesundheitsbehörde auf 21'978. Die Zahlen lassen sich nicht unabhängig überprüfen. Nach jüngsten Angaben des UN-Palästinenserhilfswerks sind 40 Prozent der Menschen in dem von Israel abgeriegelten Gebiet von einer Hungerkatastrophe bedroht.
Nach dem Urteil des Obersten Gerichts gegen einen Teil der umstrittenen Justizreform stellt sich die Frage, ob Netanjahu die Entscheidung akzeptiert oder nicht. (sda/dpa)