Neben Giorgia Meloni herrscht in Italien die grosse Leere: Die Opposition ist seit dem Amtsantritt der 48-jährigen Römerin als Regierungschefin im Oktober 2022 völlig überfordert – so überfordert, dass die ersten Linken das Lager wechseln. So ist in der vergangenen Woche die bestgewählte sozialdemokratische Stadträtin von Rom, Eleonora Talli, aus dem Partito Democratico aus- und bei den Fratelli d’Italia von Giorgia Meloni eingetreten.
Talli erklärte:
Zur persönlichen Sympathie beigetragen habe, dass Meloni aus dem gleichen Römer Quartier stamme wie sie selber, aus dem Arbeiterviertel Garbatella.
Noch haben Parteiübertritte wie jener Tallis Seltenheitswert. Aber der Fall zeigt anschaulich, wie viel Respekt sich Meloni längst auch beim politischen Gegner erarbeitet hat. Schon ein Jahr nach dem Wahlsieg der Chefin der Fratelli d’Italia hatte der sozialdemokratische Ex-Premier Enrico Letta festgestellt, «dass Meloni besser ist als gedacht». Und hinter vorgehaltener Hand seufzen viele Genossinnen und Genossen:
Mit ihren tausend Tagen an der Macht führt Meloni, die erste Frau an der Spitze einer italienischen Regierung, bereits heute die Exekutive mit der fünftlängsten Regierungsdauer an (von insgesamt fast 70 Regierungen seit 1948). Den Rekord hält die zweite Regierung von Silvio Berlusconi mit 1409 Tagen (Juni 2001 bis April 2005). In Italien zweifelt niemand daran, dass Meloni diese Bestmarke knacken wird.
Dass Meloni «besser ist als gedacht» hat man seit längerem auch in Brüssel bemerkt. Die Bedenken waren zunächst erheblich gewesen: Die Chefin der postfaschistischen Fratelli d’Italia galt insbesondere in linksliberalen Kreisen als gefährliche Rechtsextremistin, als eine italienische Marine Le Pen.
Ausserdem hatte sie sich vor ihrer Wahl immer wieder pointiert EU-kritisch geäussert, und ihre Koalitionspartner, die Berlusconi-Partei Forza Italia und die Lega von Matteo Salvini, hatten den Italienerinnen und Italienern im Wahlkampf utopische Rentenverbesserungen und Steuersenkungen versprochen. Wären diese realisiert worden, hätte dies – das ohnehin schon hoch verschuldete Italien möglicherweise vollends in den Ruin getrieben.
Und was tat Meloni? Sie fuhr, kaum im Amt, ihre Anti-Brüssel-Rhetorik auf null hinunter und schnürte einen Sparhaushalt nach dem anderen. Resultat: Die Staatsverschuldung sank, wenn auch nicht in absoluten Zahlen, aber immerhin in Relation zum Bruttosozialprodukt. Die Wirtschaft wächst, die Arbeitslosigkeit sank auf den tiefsten Stand seit fünfzig Jahren, die Risikoaufschläge liegen heute sogar noch unter jenen, die während der Regierung ihres Vorgängers Mario Draghi, dem ehemaligen EZB-Chef, üblich waren.
Was in Brüssel ebenfalls gut ankam: Meloni hat nie den geringsten Zweifel daran gelassen, dass Italien unter ihr an der Seite der Ukraine stehe. Das wäre mit einer Regierung aus dem Partito Democratico und Fünf-Sterne-Bewegung mehr als fraglich gewesen. «Giorgia Meloni ist eine pragmatische Politikerin und eine sehr konstruktive Stimme in Europa», fasste diese Woche der österreichische Kanzler Christian Stocker von der ÖVP nach seinem Antrittsbesuch in Rom den Eindruck zusammen, der in der gesamten Europäischen Volkspartei (EVP) vorherrscht.
Mit EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen verbindet Meloni ein geradezu freundschaftliches Verhältnis; der europäische Migrationspakt trägt wesentlich die Handschrift der italienischen Ministerpräsidentin.
Eher mager fällt dagegen Melonis innenpolitische Bilanz aus, nicht zuletzt auch in der Migrationspolitik, also bei dem Thema, mit dem sie die Wahlen gewonnen hatte. In ihrem ersten Jahr als Regierungschefin hatte sich die Zahl der Migranten, die in Italien ankamen, glatt verdoppelt. Im folgenden Jahr besserte sich die Situation dank eines Abkommens mit Tunesien deutlich.
In diesem Jahr steigen die Zahlen wieder. Als Schlag ins Wasser erwiesen sich bisher die extraterritorialen Abschiebelager in Albanien, wo Meloni Migranten aus sogenannt sicheren Herkunftsländern internieren und ohne Umweg über Italien zurückspedieren wollte.
Italienische Gerichte sind der Regierungschefin bei ihrem «Albanien-Modell» mehrfach in die Parade gefahren. Aber die Lager hätten auch ohne Intervention der Richter nicht funktioniert, da Italien über praktisch keine Abkommen mit den Herkunftsländern zur Rückübernahme der Migranten verfügt.
Noch bescheidener sieht die Bilanz bei den von Meloni mit Pauken und Trompeten angekündigten drei Staatsreformen aus: Von der «Mutter aller Reformen», mit der die Stellung des Regierungschefs aufgewertet werden sollte, haben sich im Parlament die Spuren verloren. Dasselbe gilt für die Föderalismusreform, die vom Verfassungsgericht in weiten Teilen für verfassungswidrig erklärt wurde. Nur die Justizreform ist noch nicht ganz in der Schublade verschwunden.
Nichtsdestotrotz sitzt Meloni nach 1000 Tagen im Palazzo Chigi, dem Sitz der Regierung in Rom, fester im Sattel denn je. Die Römerin ist zu einer unverwechselbaren Marke geworden: Ihr loses Mundwerk und ihr bewusst eingesetzter Römer Akzent, ihre burschikose Art, ihre Selbstironie und ihre Schlagfertigkeit haben ihr Respekt verschafft.
Dass Meloni weder in der Opposition noch in den eigenen Reihen Gegner fürchten muss, bedeutet allerdings noch lange nicht, dass sie über die Massen beliebt wäre: Ihre persönlichen Zustimmungswerte liegen in den Umfragen seit ihrem Amtsantritt konstant bei 40 bis 45 Prozent. Das ist zwar nicht schlecht, aber ihr Vorgänger Draghi kam auf 70 Prozent Zustimmung.
Millionen von Italienerinnen und Italienern dürften es sehen wie Sergio Palazzo, Strandbad-Besitzer im Badeort Sperlonga südlich von Rom. Von CH Media zu Meloni befragt, stellte er die Gegenfrage:
(aargauerzeitung.ch)
Ich sehe mich nicht rechts. Aber mit Meloni kann ich gut leben.
Es gehört zu einer Demokratie, dass Parteien an der Macht sind, welche nicht im eigenen Spektrum politisieren.