Pebbles F.
Beim Vergleich der beiden Ansprachen stellt die Zuhörerschaft fest, dass Putin konsequent alles verdreht und Biden voller Vertrauen darin ist, dass die freiheitlichen Ideen gewinnen werden. Ich möchte ebenfalls daran glauben.
Zum Ende hin, nachdem die ersten Gäste im Moskauer Veranstaltungszentrum Gostiny Dwor bereits zu gähnen angefangen hatten, holt Russlands Präsident Wladimir Putin sie plötzlich aus dem Halbschlaf: Russland werde seine Teilnahme am New-Start-Abkommen aussetzen, sagt er in seiner Rede an die Nation. Ein definitiver Ausstieg aus dem nuklearen Rüstungsvertrag mit den USA sei das zwar nicht. Sollten die Amerikaner allerdings ihre Waffen testen, so werde Moskau in nichts nachstehen, so Putin.
Der Vertrag begrenzt die Nuklear-Arsenale beider Länder auf je 800 Trägersysteme und 1550 einsatzbereite Atomsprengköpfe. Erst 2021 war die Laufzeit des Abkommens um fünf Jahre verlängert worden. Nun zeigt Putin, dass ihm letztlich jedwede Zusammenarbeit mit den USA unwichtig erscheint. Die Verantwortung schiebt der Präsident beiseite. «Der Westen hat diesen Krieg losgetreten, und wir wenden Gewalt an, um ihn zu beenden.» Das ist die offizielle Umdeutungsstrategie Moskaus.
Russland kämpfe keineswegs gegen das ukrainische Volk, es sei der «verlogene Westen», der das Land besetzt halte und alle Ukrainer als Gebrauchsmaterial und das Land als Waffenplatz gegen Russland einsetze. «Sie haben Pädophilie zur Norm ihres Lebens erklärt und wollen solche, als human dargebrachten Werte, jedem in der Welt aufzwingen. Ihr Ziel dabei ist es, uns die historischen Territorien, die jetzt Ukraine heissen, zu entreissen.» «Sie», das ist der Westen, das sind die USA. Dem Kremlchef ist kein perfides Narrativ zu schade, um sein Land darauf einzuschwören, dass der Krieg ein langer sein wird.
Die meisten Menschen im Land glauben Putins Erzählung, sie haben sie längst zu ihrer gemacht und stehen hinter ihrem Präsidenten, der auch am Dienstag von «ein Land, ein Volk, eine Wahrheit» spricht. Der Begriff «Krieg» – im Zusammenhang mit den Kämpfen in der Ukraine laut russischem Gesetz eigentlich verboten – zieht sich durch Putins gesamte Rede. «Wir werden alles tun für die Sache. Wir werden alles tun für den Sieg», sagt er, die Gäste applaudieren. Was dieses «alles» aber ist, erläutert er nicht.
Die Menschen, spätestens seit der Ausrufung der Mobilisierung in Alarmbereitschaft, würden – selbst, wenn sie den Krieg tragen – durchaus gern wissen, wie dieser Krieg weitergehen, wie er beendet werden soll. Konkretes aber liefert Putin nicht. Für ihn ist dieser ein Mittel, sein Land umzubauen. Wirtschaftlich, politisch, auch moralisch. Es soll eine Art «neuer Russe» entstehen: einer, der für den Kampf fürs Vaterland «alles gibt». Letztlich einer, der sich von der Machtelite zum Objekt machen lässt und nichts in Frage stellt.
Der Krieg funktioniert nicht nur als Umwandler der Wirtschaft, sondern auch als sozialer Lift, die «Erfahrung der Kämpfenden» solle in jedem Bereich des Landes Einzug finden. Zurückgekehrte sollen in die Politik gehen, ihre Kinder und auch Kinder Gefallener einfacher Studienplätze bekommen. «Wir sind uns in unserer Stärke sicher», ruft Putin. Hymne. Standing Ovations. Hinaus zum Töten.
Einige Stunden nach Wladimir Putins Rede in Moskau tritt Joe Biden in Warschau ans Mikrofon. Natürlich weiss er, dass sein Auftritt nicht in einem luftleeren Raum stattfindet. Die rhetorischen Kraftmeiereien seines russischen Amtskollegen sind auch dem amerikanischen Präsidenten zu Ohren gekommen – selbst wenn das Weisse Haus sorgsam darum bemüht ist, vor Beginn der knapp 20 Minuten dauernden Ausführungen Bidens bekannt zu geben, dass dessen Rede vor historischer Kulisse nicht als Replik auf Wladimir Putin zu verstehen sei.
Also richtet Biden auf dem Areal des Königsschlosses in der Altstadt von Warschau, das nach dem Zweiten Weltkrieg wieder aufgebaut werden musste, das Wort direkt an die russische Bevölkerung. «Millionen von Russen», sagt der US-Präsident, «sind nicht unsere Feinde», selbst wenn Putin etwas anderes behauptet. Der Westen habe kein Interesse daran, Russland anzugreifen oder zu kontrollieren. Der Krieg in der Ukraine sei deshalb kein «notwendiger» Akt der Selbstverteidigung, so wie von Putin dargestellt, «sondern eine Tragödie».
Biden zeichnet, in einfachen Worten, einen Kontrast zwischen zwei kollidierenden Wertesystemen, die auf dem Schlachtfeld der Ukraine aufeinanderträfen. Auf der einen Seite die Demokratien dieser Welt, die vereint, mit Biden an der symbolischen Spitze, Freiheit und Menschenrechte verteidigten. Und auf der anderen Seite Autokraten wie Putin.
Biden ist der Meinung, dass Putin es in der Hand hat, den Krieg zu beenden. Erleichtern will er dem russischen Präsidenten diesen Schritt aber nicht. Mit Zugeständnissen, sagt Biden stattdessen, lasse sich der Appetit von Autokraten nie stillen. Putin und Konsorten verstünden nur ein Wort, das Wort «Nein!». Er erinnert Russlands Präsidenten deshalb an die Beistandspflicht der Nato, zur Freude der Polen. «Russland weiss: Eine Attacke gegen ein Land ist eine Attacke gegen alle.»
Obwohl die Ukraine nicht Mitglied des Verteidigungsbündnisses ist, werde der Westen der attackierten Demokratie mit allen Mitteln zur Seite zu stehen. Und Russland, sagt Biden zur grossen Freude von Tausenden von Schaulustigen, werde in der Ukraine «niemals» siegen. «Niemals!»
Bis Putin dies allerdings einsieht, kann es noch lange dauern. Aus diesem Grund stimmt Biden die Menschen in Polen auf einen langen Kampf ein. «Harte, schmerzliche Tage» stünden der Ukraine und den Demokratien dieser Welt bevor, sagt Biden, mit Verweis auf die Verbrechen gegen die Menschheit, die russische Soldaten bereits begangen hätten.
Aber die Demokratien dieser Welt seien auf diese anhaltende Konfrontation gut vorbereitet. Die Garanten der Freiheit würden die Ukraine «unerschütterlich» unterstützen, sagt Biden. Kiew, so der amerikanische Präsident, der am Montag die ukrainische Hauptstadt überraschend besucht hatte, «steht stark, steht stolz, steht aufrecht und, was am wichtigsten ist, Kiew steht frei». Das ist, ein Jahr nach Beginn der russischen Invasion, nicht selbstverständlich. (bzbasel.ch)