Werner Boller arbeitete 40 Jahre für dieselbe Firma – bis er mit 61 gekündigt wurde und keinen Job mehr fand. Claudio Leu verlor mit 55 seine Stelle, wurde mit 57 ausgesteuert und lebt heute auf einem Campingplatz.
Das sind zwei Beispiele, watson sind jedoch noch mehr bekannt. Auch eine HR-Fachfrau wurde kurz vor ihrer Pensionierung ersetzt – durch ihre eigene Lehrtochter.
Ein Post-Mitarbeiter musste seine Frühpension mit eigenen Mitteln finanzieren. Sie alle erzählen in der watson-Serie «Ü55 und gekündigt», wie sie trotz Erfahrung und Arbeitswillen aus dem Arbeitsmarkt gedrängt wurden.
Sind das Einzelfälle oder steckt ein strukturelles Problem dahinter? watson hat nachgefragt, wie gross die Lücke zwischen politischem Plan und gelebter Realität wirklich ist.
Wie viele Menschen kurz vor der Pensionierung aus dem Arbeitsmarkt gedrängt werden, ist schwer zu beziffern – selbst die Behörden tun sich schwer mit einer genauen Definition von «frühpensioniert». Denn: Manche beziehen eine Rente und arbeiten weiter, andere hören ganz auf zu arbeiten, ohne Rentenbezug.
Doch es gibt grobe Anhaltspunkte: Ende 2024 bezogen laut AHV-Register rund 13’770 Männer unter 65 und 11’440 Frauen unter 64 eine vorzeitige AHV-Rente. Das entspreche rund 12 Prozent der Männer und 10 Prozent der Frauen in ihrem Jahrgang.
Wie viele von diesen Personen wirklich freiwillig in die Frühpension gingen, ist schwer zu beziffern. Die letzte entsprechende Erhebung des BFS beruht auf Auswertungen der Schweizerischen Arbeitskräfteerhebung (SAKE) aus dem Jahr 2019. Damals wurden Pensionierte befragt, ob sie sich selbst als «frühpensioniert» einstufen – eine Einschätzung also aus ihrer eigenen Perspektive, nicht anhand des effektiven Erwerbsstatus oder Leistungsbezugs.
77,6 Prozent sagten, sie seien «eher freiwillig» in die Pension gegangen. Umgekehrt heisst das: Fast jeder vierte Frührentner (22,4 Prozent) wurde «eher unfreiwillig» frühpensioniert. Immerhin: Seit der ersten SAKE-Erhebung 2008 stieg der Anteil an «eher freiwilligen» Frühpensionierungen leicht an, um insgesamt 4,2 Prozent.
Warum Menschen kurz vor der Pensionierung ihre Stelle verlieren, ist statistisch ebenfalls schwer zu belegen. Das Bundesamt für Statistik (BFS) bestätigt: Es gibt keine belastbaren Daten zu den Gründen für eine unfreiwillige Frühpensionierung.
Die SAKE-Auswertung von 2019 zeigt aber, was Betroffene selbst angeben: 23,6 Prozent nennen betriebliche Gründe, 17,3 Prozent gesundheitliche Probleme. In vielen Fällen war der Rückzug vom Arbeitsmarkt also keine freie Entscheidung. Mit anderen Worten: Bei fast jedem Vierten war eine unternehmensbedingte Kündigung ausschlaggebend – das, was auch viele Betroffene im Gespräch mit watson schildern.
Laut der Gewerkschaft Unia betrifft das besonders viele Menschen in Industrie- und Bauberufen – etwa wie Werner Boller, der mit 61 seinen Job in der Logistik verlor. Fragt man die Entlassenen, vermuten diese als Grund oft den sogenannten «Kostendruck». Denn ab 55 steigen die BVG-Beiträge von Arbeitgebern auf 18 Prozent. Das macht ältere Arbeitnehmer für Arbeitgeber teurer.
Die Unia nennt das ein Systemproblem, das Kündigungen und Nichteinstellungen begünstige und fordert eine Anpassung der Prozentstufen. Dafür spricht sich auch der Arbeitgeberverband gegenüber watson aus. Denn die höheren BVG-Beiträge bei älteren Arbeitnehmenden würden diese «verteuern und für Arbeitgeber einen Fehlanreiz» bieten. Sprich: Jüngere Arbeitnehmer würden bei selbem Lohn günstiger sein als ältere Arbeitnehmer.
Die Reform der beruflichen Vorsorge hätte eine Angleichung vorgesehen, wurde jedoch 2024 vom Stimmvolk abgelehnt.
Der Arbeitgeberverband betont zudem: «In der Literatur finden sich kaum gesicherte Erkenntnisse, dass Arbeitgeber seltener ältere Arbeitnehmende einstellen, weil ihnen die Pensionskassenbeiträge zu hoch sind.»
Ein weiterer von Betroffenen viel geäusserter Pauschalvorwurf lautet: Ältere Arbeitnehmende würden häufiger entlassen als jüngere. Doch das Staatssekretariat für Wirtschaft (SECO) hält gegenüber watson fest, dass ältere Arbeitnehmende nicht häufiger ihre Stelle verlieren als jüngere. Es gebe jedoch einen Unterschied, der stark ins Gewicht falle, so das SECO:
Oder anders gesagt: Wer im Alter rausfliegt, fliegt oft für immer.
Wer mit über 60 arbeitslos wird, kann unter bestimmten Bedingungen länger von der Arbeitslosenversicherung (ALV) unterstützt werden. Laut SECO erhalten über 55-Jährige bei ausreichender Beitragszeit bis zu 640 Taggelder – das sind rund zweieinhalb Jahre. Doch danach wäre man ausgesteuert, was bedeutet, dass eine Person ihren Anspruch auf Arbeitslosengeld verliert, weil die maximale Bezugsdauer überschritten wurde.
Seit 2021 gibt es deshalb Überbrückungsleistungen für über 60-Jährige, die keine Stelle mehr finden – damit diese nicht ausgesteuert werden und auf Sozialhilfe angewiesen sind. Doch: Die Hürden sind hoch. Wer Anspruch haben will, muss unter anderem mindestens 20 Jahre AHV-Beiträge geleistet und wenig Vermögen haben.
Viele fallen aber durch dieses Raster und müssen ihre Pensionskassengelder beziehen. Wer keine Anstellung mehr findet, verliert oft die Anbindung an eine Pensionskasse – das bedeutet: Es bleibt nur noch der Kapitalbezug.
Für viele wird dieser Kapitalbezug zur Zwangslösung. Laut SAKE zogen 13,6 Prozent der Kapitalbezüger ihr Guthaben nur deshalb ab, weil keine Rente möglich war oder das Guthaben zu klein war. Wer das Geld zu schnell verbraucht, bekommt später Probleme mit Ergänzungsleistungen. Denn wie das Bundesamt für Sozialversicherungen (BSV) erklärt, wird das Kapital auch dann als Vermögen angerechnet, «wenn es für den Lebensunterhalt verwendet wird».
Die Unia fordert darum gesetzliche Anpassungen:
Damit nicht mehr so viele Menschen «eher unfreiwillig» in die Frühpension müssen, verweist das SECO auf ein Paket an Massnahmen und Programme wie Jobcoaching oder Supported Employment. Job Coaches beteiligen sich an der Stellensuche und begleiten die älteren Arbeitnehmenden auch nach dem Stellenantritt. Das Pilotprogramm zur aktiven Stellensuche für Ausgesteuerte läuft noch bis 2026.
Der Bundesrat wiederum will Frühpensionierungen weniger attraktiv machen – und die Arbeit bis 70 und darüber hinaus gezielt fördern. Der Arbeitgeberverband fordert dafür bessere finanzielle Anreize: etwa höhere AHV-Freibeträge und Zuschläge bei aufgeschobenem Rentenbezug. Entscheidend sei, dass ältere Mitarbeitende durch Weiterbildung länger fit bleiben für den Arbeitsmarkt.
Auch die Unia setzt auf «Weiterbildungsmassnahmen», fordert aber ebenso «einen besseren Kündigungsschutz, längere Kündigungsfristen und Lösungen für vorzeitige Pensionierungen».
Was sich am Ende durchsetzt, bleibt offen. Sicher ist: Wer mit 55 und darüber seine Stelle verliert, hat es schwer. Für Menschen wie Werner Boller, der nach 40 Jahren entlassen wurde, oder Claudio Leu, der heute auf einem Campingplatz lebt, kommt die Hilfe zu spät. Sie wollten weiterarbeiten – doch der Arbeitsmarkt hatte längst entschieden, dass ihre Zeit vorbei sei.
Nein- Man sollte nicht die Arbeit bis zum 70. Lebensjahr "fördern", sondern die Dauer der Berufstätigkeit nach Branchen unterscheiden.
Ein Bauarbeiter, der mit 16 Jahren angefangen hat, hat sicher nicht die gleiche Motivation, bis 70 zu arbeiten, wie ein Notar, der mit 30 Jahren angefangen hat!
Doch wir brauchen nicht nur Notare, sondern auch Bauarbeiter!
Und ich weiß nicht, ob ich einem Chirurgen trauen würde, der im Alter von 80 Jahren noch operieren will.