Es sollte die aufregendste Zeit seines Lebens werden. Das Englisch verbessern, surfen, neue Leute kennenlernen, in eine andere Kultur, einen ganz anderen Alltag eintauchen. Raus aus dem wunderschönen, aber doch etwas kleinräumigen Celerina im Engadin.
Doch kaum war Marc B. im Februar 2023 in Honolulu angekommen, sagte ihm die Ärztin am Spitalbett:
Marc hatte im Sommer zuvor seine Lehre als Elektroinstallateur abgeschlossen. Mit der Reise nach Hawaii erfüllte er sich einen Traum. Schon als kleiner Bub stand er in Italien auf dem Surfbrett. Einen Rückflug buchte der damals 20-Jährige nur, «weil es sonst bei der Einreise in die USA Probleme geben kann».
Mit seinem Lehrmeister verstand er sich bestens, Marc wusste, dass er jederzeit in den Betrieb zurückkehren konnte. So weit, so gut.
Nach einem langen Flug kam Marc spätabends erschöpft, aber zufrieden und vorfreudig auf Hawaii an. Er rief kurz seine Eltern an und ging dann ins Bett. Am übernächsten Tag stand bereits das erste Mal Surfen auf dem Programm. «Es war die erste und zugleich auch die letzte Surfstunde.»
Der damals 20-Jährige war eine Dreiviertelstunde auf dem Wasser, als er aus dem Nichts Schmerzen im Lendenwirbelbereich feststellte. Von Minute zu Minute wurden diese schlimmer. Marc erzählt:
In der Nähe des Strandes spürte Marc plötzlich seine Beine nicht mehr. Dann wurde es dramatisch. «Ich fiel ins Wasser und konnte meinen Kopf nicht mehr über Wasser halten. Im Schock kam ich nicht auf die Idee, mich am Surfbrett festzuhalten.»
Zum Glück waren Rettungsschwimmer in der Nähe, die ihn aus dem Wasser ziehen konnten. Ohne sie wäre Marc heute vielleicht nicht mehr hier.
Noch immer dachte Marc, er sei einfach erschöpft. Zwei Tage zuvor sass er 22 Stunden im Flugzeug, vielleicht waren die Beschwerden ja dadurch zu erklären. Als er den Rettungsschwimmern jedoch von seinen Symptomen erzählte, ging es ganz schnell. Eine Ambulanz fuhr ihn ins Queen's Medical Center, das grösste Spital Hawaiis.
«Während der halbstündigen Fahrt realisierte ich die Tragweite meiner Verletzung noch immer nicht. Die Rettungssanitäter rissen Scherze, wir lachten gemeinsam.»
Im Spital angekommen, wechselte die Stimmung dann schlagartig. Der medizinische Befund war niederschmetternd: Surfer-Myelopathie.
Andreas Jenny ist leitender Arzt Paraplegiologie am Schweizer Paraplegiker-Zentrum in Nottwil. Seit 30 Jahren befasst er sich mit der Diagnose – auch Marc hat er behandelt. Er erklärt:
Jenny betont: «Sobald Surferinnen und Surfer Anzeichen wie ein Kribbeln in den Beinen, Schmerzen oder ein Schwächegefühl feststellen, sollten sie ihre Haltung sofort ändern.»
Je schneller man reagiere, desto schneller werde das Rückenmark auch wieder normal durchblutet. «So kann man viel Schaden abwenden», sagt der Paraplegiologe und ergänzt: «Das sollten Surflehrer wissen und ihren Schülerinnen und Schülern mitteilen. Zudem sollte ein Surfgang grundsätzlich nicht länger als 30 Minuten dauern.»
Die Krankheit Surfer-Myelopathie ist sehr selten, weltweit kennt man nur einige hundert Fälle, belastbare Zahlen gibt es nicht. Deswegen liegen auch nur wenig wissenschaftliche Erkenntnisse vor – die Stichprobe ist schlicht zu klein. Warum die Krankheit ausbricht oder nicht – dafür gibt es keine eindeutige Theorie.
Obwohl namensgebend, sind die meisten der Betroffenen keine Surferinnen und Surfer. Sie erkranken – Männer und Frauen gleichermassen – beim Betreiben von Gymnastik oder Ballett, beim Golfspielen oder bei der Arbeit in einer Fabrik, wenn immer dieselbe Haltung eingenommen wird.
Zurück nach Hawaii. Kurz vor den ersten Schmerzen fiel Marc vom Surfbrett. Was jedem Anfänger dutzende Male passiert, geschah bei ihm im dümmsten Moment. «Die Felsen kommen an dieser Stelle im Meer sehr nah an die Wasseroberfläche. Ich krachte mit dem Rücken genau auf ein solches Riff.»
Mit Marcs Diagnose hat der Sturz allerdings nichts zu tun. Jenny betont: «Im medizinischen Sinne ist die Surfer-Myelopathie keine Verletzung, sondern eine Krankheit.» Sie hätte bei Marc auch ohne seinen Sturz vom Surfbrett ausbrechen können. Ob und wann? Diese Frage kann weder die Ärzteschaft auf Hawaii noch die in der Schweiz beantworten.
Fakt ist: Nach gerade mal zwei Tagen war Marcs Hawaii-Abenteuer jäh vorbei. Wind und Wellen am Waikiki Beach waren weit weg, fortan standen unzählige ärztliche Untersuchungen und Abklärungen auf dem Programm.
Marc litt zwischenzeitlich unter heftigen Kopfschmerzen, lag tagelang im abgedunkelten Spitalzimmer. Immerhin: Alleine war er nicht. Eine Frau, die er in der Surfstunde kennenlernte, und deren Freund besuchten ihn täglich – in dieser Zeit eine grosse Unterstützung.
Schwierig war die Situation auch für Marcs Familie. Zwei Tage nach der Nachricht, gut in Hawaii angekommen zu sein, musste er seinen Eltern mitteilen, dass er querschnittsgelähmt in einem Spitalbett lag.
Vater, Mutter und Schwester, von der Diagnose erschüttert, überlegten sich, zu ihm nach Hawaii zu reisen. Dieser Plan erübrigte sich jedoch, weil Marc bald den umgekehrten Weg einschlug.
Zwei Wochen nach seinem Unfall flog ihn ein Rega-Jet zurück in die Schweiz. «Mein Vater tätigte einen Anruf, danach hat die Rega alles aufgegleist. Dafür bin ich bis heute sehr dankbar.»
Vom Flughafen in Kloten ging es direkt ins Paraplegiker-Zentrum in Nottwil. Dort sollte Marcs Reise erst richtig beginnen.
In der Zwischenzeit sind zweieinhalb Jahre vergangen. Im Gespräch hört sich Marc alles andere als niedergeschlagen an. Er gibt eloquent Auskunft, erzählt vom Erlebten, spricht von Träumen und Wünschen.
Aufgeben sei schon damals auf Hawaii keine Option gewesen:
Acht Monate verbrachte Marc in der Reha in Nottwil, absolvierte täglich Therapien, kämpfte sich von Fortschritt zu Fortschritt. Da er an einer unvollständigen Paraplegie leidet, kann er seine Beine teilweise bewegen. Die Arme waren nie von der Lähmung betroffen.
Zu den Heilungschancen sagt Paraplegiologe Jenny: «15 Prozent der Betroffenen erholen sich vollständig, 25 gar nicht. Bei den restlichen 60 Prozent ist es etwas dazwischen.»
Die Zeit sei der relevanteste Faktor. Im ersten Jahr würden Betroffene am meisten Fortschritte machen, danach immer weniger. Jenny weiss aus Erfahrung: «Eine vollständige Rehabilitation wird mit den Jahren immer unwahrscheinlicher.»
Trotzdem können sich auch längere Zeit nach Ausbruch einer Surfer-Myelopathie Erfolge einstellen. Jenny sagt: «Gewisse Zellen sind ganz abgestorben, andere können jedoch wieder ‹erwachen›, auch Jahre später.»
Heute geht Marc an Krücken. Weil sich die Nerven im Rückenmark erst noch erholen müssen, hat er in den Oberschenkeln, Waden und im Gesäss noch zu wenig Funktion, um Muskulatur aufbauen zu können. Deswegen weicht er mit dem Becken beim Gehen aus. Längere Strecken legt der 22-Jährige im Rollstuhl zurück.
Lähmungen hat Marc fast keine mehr. Dafür viel Spastik (ungewollte Muskelverkrampfungen) und Klonusbewegungen (Muskeleigenreflexe). Diese drücken unter anderem auf die Blase, deshalb muss Marc regelmässig auf die Toilette. Den Dauerkatheter, den er zu Beginn trug, ist er jedoch los. Auch die Verdauung funktioniert wieder, wie sie sollte.
Den Beruf des Elektroinstallateurs konnte Marc nach der Reha nicht wieder aufnehmen. Er absolvierte mehrere Umschulungen und arbeitet heute zu 60 Prozent im Büro einer Firma für Gebäudeautomation.
Neben der Arbeit geht er nach wie vor in die Physiotherapie, nutzt ein Exoskelett und besucht das Fitnessstudio. Auch alternative Heilmethoden probiert der 22-Jährige immer wieder aus. Er absolvierte eine Kaltwassertherapie, ging ins Qigong, trainierte sein Nervensystem in der Neuroathletik, arbeitete mit Farben und Gerüchen. Alles, was über die verordnete Therapie hinausgeht, bezahlt er aus der eigenen Tasche. Er betont:
Gleichzeitig denkt Marc immer wieder, dass es ihn schlimmer hätte treffen können. «Verglichen mit anderen Patienten in Nottwil – etwa Tetraplegikern, die ab dem Hals hinab gelähmt sind – schätzt man, was man kann.»
Als die Reha im November 2023 zu Ende war, machte ihm der Übergang ins normale Leben zunächst zu schaffen. «In Nottwil war ich verhältnismässig einer der Besten und Gesündesten, draussen bin ich immer der Langsamste und der, der am meisten eingeschränkt ist.»
Heute lebt Marc mit seiner Freundin in der Nähe von Nottwil. Das Verhältnis zu seiner Familie ist noch besser als vor der Krankheit. «Meine Geschichte hat uns definitiv zusammengeschweisst.»
Psychologische Hilfe hat Marc nie in Anspruch genommen: «Der Austausch mit anderen Patientinnen und Patienten hilft mir mehr. Dabei sind enge Freundschaften entstanden.»
Zumindest teilweise führt der 22-Jährige heute ein ganz normales Leben. Zu Hause läuft er ohne Krücken, weil immer eine Wand in der Nähe ist, wo er sich festhalten kann. Sein Auto gibt ihm viele Freiheiten, bedienen tut er es mit einem speziellen Handhebel. Auch Ferien liegen drin. Mit seiner Freundin war Marc in Italien, Griechenland und Sri Lanka.
Nur zwei Wünsche sind bislang noch unerfüllt:
Ein Kreis würde sich schliessen.
Dem jungen Mann wünsche ich weiterhin viel Kraft auf dem Weg zu seiner vollständigen Genesung und danke, dass er seine Geschichte mit uns geteilt hat. Marc ist ein toller Beispiel dafür was der Mensch alles kann. Weiter so!
Ihm weiterhin viel Optimismus und Energie. Er wird es packen!
Marc beeindruckt mich mit seinem starken Willen! Ich wünsche ihm alles Gute auf seinem weiteren Lebensweg!
Ich bin auch immer wieder beeindruckt, von der tollen Arbeit, die am Paraplegikerzentrum Nottwil geleistet wird.