Wolodymyr Selenskyjs schlimmster Korruptionsskandal
Die russische Nachrichtenagentur Tass jubiliert: Die goldene Toilettenschüssel, die anlässlich einer Wohnungsdurchsuchung bei Timur Minditsch, einem Freund und ehemaligen Geschäftspartner Selenskyjs, gefunden wurde, sei in Tat und Wahrheit ein Dankeschön. Und zwar der Dank der korrupten ukrainischen Elite an ihre Geldgeber im Westen.
Die Kreml-Propaganda insinuiert damit, dass die westliche Waffen- und Finanzhilfe am Ende vor allem das bestechliche Umfeld des ukrainischen Präsidenten bereichere.
Fakt ist – wenn man es noch wohlwollend ausdrückt: Selenskyj hat seit der russischen Grossinvasion wenig getan, um die grassierende Korruption an der Spitze des Staats einzudämmen. Das letzte Mal – für alle sichtbar – diesen Sommer, als er versuchte, die unabhängigen Korruptionsermittler an die Kandare zu nehmen. Damit wäre genau jener Skandal, der nun geplatzt ist, unter den Teppich gekehrt worden.
Nur wegen Massenprotesten und dem Aufschrei im westlichen Ausland musste der Präsident seine Entscheidung zurücknehmen. Mit dem fehlgeschlagenen Coup hat er sich offenbart: In Wirklichkeit hält Selenskyj eine schützende Hand über die Bestechlichen – zumindest über jene, die ihm persönlich nahestehen oder für sein politisches Überleben wichtig sind.
Mitschuld des Staatschefs
Am Mittwoch wurde Justizminister Haluschtschenko suspendiert, weil Korruptionsermittler seine Wohnung durchsucht hatten und ihn verdächtigen, inmitten des Bestechungsskandals um den staatlichen Atomenergiekonzern zu stehen. Bewiesen ist zwar noch nichts, aber die Anschuldigungen lassen sich in einem Beispiel etwa so zusammenfassen: Wegen der russischen Luftangriffe auf Unterwerke – also Transformatorenstationen – von Kraftwerken wurde beschlossen, diese und ähnliche Anlagen mit Zusatzbauten aus Beton zu schützen.
Lieferanten und Dienstleister des Energiekonzerns wurden gezwungen, bei solchen Vorhaben zwischen 10 und 15 Prozent des Erlöses an das Verbrecherkartell zu bezahlen, dem laut den Ermittlern nicht nur der Justizminister, sondern auch Selenskyjs Freund Minditsch angehörte.
So wurden illegale Rückvergütungen – im Volksmund Bestechungsgelder genannt – in Höhe von umgerechnet mehr als 75 Millionen Franken aus der Staatskasse abgezweigt. Angesichts der Stromausfälle im ganzen Land und der misslichen Lage der ukrainischen Streitkräfte ist das eine Katastrophe.
Eigentlich müssten nun Köpfe rollen und höchste Regierungsmitglieder ihren Rücktritt einreichen. Premierministerin Swiridenko hat das Parlament inzwischen gebeten, den Justizminister und die erst seit kurzem amtierenden Energieministerin Hrintschuk zu entlassen.
Warum ist Selenskyj
für das Desaster mitverantwortlich? Es war eben nicht nur sein Versuch im Juli, die unabhängigen Korruptionsermittlungen zu torpedieren. Bezeichnend ist auch, dass der nun suspendierte Justizminister bis dahin noch selbst Energieminister war. Aber statt ihn schon damals in die Wüste zu schicken, hat man ihn ins Justizministerium wechseln lassen – den Bock also quasi zum Gärtner gemacht.
Als i-Tüpfelchen kommt noch hinzu, dass Selenskyjs ehemaliger Geschäftspartner Minditsch, Stunden bevor die Ermittler auf die goldene Toilettenschüssel in seiner Wohnung stiessen, gewarnt worden war und das Land fluchtartig verlassen hatte.
Gefährliches Vakuum
Gibt es etwas Gutes daran? Immerhin scheint das System von «checks and balances» trotz Kriegs und des zunehmend autoritären Gehabes an der Staatsspitze zu funktionieren. Oppositionspolitiker und unerschrockene Journalisten halfen mit, die Skandale aufzudecken. Doch wird das ausreichen?
Natürlich könnte der Westen Druck machen und Personalwechsel fordern. Das Problem ist aber, dass niemand in der Ukraine Politikern vertraut. Für viele Ukrainer sind sowieso alle Politiker und die meisten Beamten korrupt.
Mit dem Zurückhalten von Hilfe könnte der Westen auch tief greifende Schritte, möglicherweise bis hin zu Selenskyjs Rücktritt, fordern. Aber solange Krieg herrscht und Kriegsrecht gilt, verbietet die ukrainische Verfassung Neuwahlen. Eine Entfernung Selenskyjs und seines korrupten Umfelds hätte ein gefährliches Vakuum zur Folge. Und wenn der Westen die Drohung, Hilfe zurückzuhalten, wahr machte, würde die Ukraine den Krieg verlieren. Das kann nicht im Interesse Europas oder Amerikas liegen.
Vielleicht noch schlimmer ist, was Selenskyjs Versäumnisse im Land selber auslösen werden: Das nach der fehlgeschlagenen Mobilisierung ohnehin schon angeschlagene Vertrauen in die Regierung wird nun weiter erodieren. Auch die Moral der Frontsoldaten wird untergraben, wenn eine korrupte Elite die Landesverteidigung sabotiert. Allein im Oktober soll es rund 20'000 Desertionen gegeben haben. Wie kann man den Wehrpflichtigen bloss erklären, warum sie für korrupte Verbrecher in Kiew ihr Leben aufs Spiel setzen sollen? (aargauerzeitung.ch)
