Was die britische BBC ein «grossartiges Résumé von Napoleons Karriere» und «eine herrlich illustrierte Wikipedia-Seite» nennt, bewirkt in Paris schroffe Kritik: Der wichtigste Napoleon-Kenner Jean Tulard sagt, er würde jungen Schülern davon abraten, den Streifen anzuschauen. Nichts stimme in dem Film – weder die Details noch die grosse Linie. Napoleons Kriegsglück oder -pech auf seine Beziehung zu Joséphine de Beauharnais zurückzuführen, sei widersinnig und unbelegt. Wenn die Tochter reicher Plantagenbesitzer auf der Karibikinsel Martinique einen Einfluss gehabt habe, dann auf die Entscheidung Bonapartes, die (von der Revolution 1794 abgeschaffte) Sklaverei 1802 wieder einzuführen. Dieser Umstand komme aber in dem Film nicht einmal vor.
Gesagt werden soll: Napoleon-Kritik ist in Frankreich durchaus erlaubt. Der selbstgekrönte Kaiser, der per Staatsstreich an die Macht gekommen war und die Errungenschaften der erst zehn Jahre alten Revolution damit verraten hatte, hat ein ambivalentes Erbe hinterlassen. Nicht von ungefähr besucht seit Valéry Giscard d'Estaing in den 1970er-Jahren kein französischer Präsident – weder François Mitterrand noch Jacques Chirac oder François Hollande – Napoleons Sarkophag im Invalidendom. Mit dieser Tradition brach erst Emmanuel Macron, der seine bonapartistische Ader nicht verhehlen kann.
Die Zeitung «Le Monde» fragte 2021 beim 200. Todestag des französischen Kaisers stellvertretend für viele, ob Napoleon «Tyrann oder Held» gewesen sei. Andere Pariser Medien fragten etwas ratlos: «Muss man diesen Anlass feiern?» Die Illustrierte «Paris Match» bejahte zwar, aber mit einer ironisch unterlegten Begründung: «Napoleon war ein Tyrann - aber er war unser Tyrann!»
In der Debatte um den neuen Film geht es weniger darum, was Napoleon, sondern wer «Napoleon» gemacht hat. Den Franzosen stösst auf, dass ausgerechnet ein Brite, also ein Vertreter des «perfiden Albions», wie man in Frankreich seit dem hundertjährigen Krieg sagt, sich an die Nationalfigur von Napoleon I. wagte.
Der 86-jährige Star-Regisseur Sir Ridley Scott beschreibt den kleinen Korsen als infantilen, herumquiekenden Lustmolch. In politisch-historischen Belangen stellt er ihn in einem Interview in eine Reihe mit Alexander dem Grossen, Hitler und Stalin. Eine solche Sicht ist in Grossbritannien, das Napoleon mit einer Kontinentalsperre zu ruinieren versucht hatte, bis er von den Briten auf Elba ausgesetzt wurde, verbreitet. Im Filmabspann werden denn auch die 320'000 Toten der napoleonischen Schlachten aufgezählt.
Das Despotische sei aber nur seine Seite Napoleons, relativiert Tulard. Gleichzeitig habe der Kaiser in Europa die Früchte der französischen Revolution wie etwa das Zivilrecht verbreitet. In Frankreich habe er die Zentralbank, die Mittelschulen und den ganzen Staatsaufbau mit den Präfekturen in den Departementen geschaffen.
In diese Kerbe haut auch die konservative Pariser Zeitung «Le Figaro», die in den letzten Jahren durchaus ausgewogene Beiträge zu Napoleons egomanischen Eroberungszügen gebracht hatte. Sie hält dafür, dass Grossproduktionen wie Scotts «Napoleon» nicht nur der Volksunterhaltung dienten, sondern unterschwellig politische oder patriotische Zwecke verfolgten. So sei es kein Zufall, dass der Film «Alexander» (der Grosse) von Oliver Stone kurz nach dem Irakkrieg erschienen sei; obwohl dies der politisch unkorrekte Regisseur in Abrede gestellt habe, vermittle der Unterton des Films letztlich eine Botschaft der «guten» Eroberer aus dem Westen – passend zu den amerikanischen Militäreinsätzen im Mittleren Osten. Und die Regime Chinas oder Russlands seien, so «Le Figaro», auf nationalistische Historienfilme wie etwa «Die Schlacht um Changping» (2008) oder «Die Schlacht am Kulikowo-Feld» (2022) spezialisiert.
«Le Figaros» Schlussfolgerung an französische Adressen: «Lancieren wir ebenfalls Superproduktionen über unsere Geschichte, um in den Informations- und Einflusskampagnen mit Filmen, Serien und Videospielen vertreten zu sein.» Es muss ja zu Beginn nicht gleich Napoleon sein: Mitte Dezember erscheint weltweit die Fortsetzung des letztjährigen Blockbusters «Die drei Musketiere». Mit internationaler Starbesetzung, aber garantiert mit einem französischen Regisseur. (aargauerzeitung.ch)
Wenn man eine Person wie Napoleon vor dem geschichtlichen Hintergrund beurteilen will, muss der Weg in die Bibliothek führen.