Aus Chile erreichen uns derzeit fast täglich neue Meldungen über das Ausmass der sozialen Unruhen. Mindestens zehn Menschen fielen ihnen bereits zum Opfer. Bilder von den Geschehnissen erinnern an die Zeit unter dem Diktator Augusto Pinochet, der von 1973 bis 1990 an der Macht war: Panzer in den Strassen der Hauptstadt Santiago de Chile. Doch das ist nicht alles, Gebäude, Züge und Autos stehen in Flammen, Supermärkte werden geplündert. Die Regierung hat inzwischen den Ausnahmezustand ausgerufen und den Bürgern verboten, ab 19 Uhr die Häuser zu verlassen.
Doch was sind eigentlich die Gründe, die zur derzeitigen Situation geführt haben? War es wirklich nur die Erhöhung der U-Bahn-Fahrpreise, wie berichtet wird? Nein – diese Preiserhöhung war der berühmte Tropfen, der das Fass zum überlaufen gebracht hat. Folgende drei Gründe lassen sich gemäss Stern als Hauptursachen ausmachen:
Der Auslöser der Unruhen war eine Protestaktion von Studenten, die zum kollektiven Schwarzfahren aufriefen. Die Gruppierung liess sich jedoch zu gewalttätigen Aktionen hinreissen – es wurden Fahrkartenautomaten und ganze U-Bahn-Stationen zerstört. Die Preiserhöhung führte nämlich dazu, dass armen Bürgern das Überleben noch schwerer gemacht wurde. So muss eine Person aus tiefer Einkommensklasse bis zu 30 Prozent ihres Gehaltes für den öffentlichen Verkehr aufbringen – Chile hat einen der teuersten öffentlichen Transporte in Lateinamerika.
Knapp ein Drittel des Einkommens für Transportmittel? Das ist sehr viel. Hinzu kommen jedoch weitere Preiserhöhungen: Strom, Wasser, Gas und Lebensmittel wurden teurer. Auch das Gesundheitssystem und die Rentenpolitik kriseln stark. Der Professor Cristóbal Bellolio von der Universität Adolfo Ibañez sagt gegenüber dem Stern:
Die Chilenen sind überzeugt, dass ihr Druck auf die Regierung funktionieren wird. Die Erklärung dafür findet man bei einer Betrachtung der Situationen in den Nachbarländern. In Argentinien kam es beispielsweise zu ähnlichen Preisanstiegen und in der Folge zu Unzufriedenheit. Die Regierung unter Präsident Mauricio Macri verlor dadurch das Vertrauen der Argentinier und die Chance ist gross, dass er die kommenden Wahlen von nächster Woche nicht überstehen wird.
In Ecuador musste die Regierung vor Kurzem eine Benzinpreiserhöhung rückgängig machen, nachdem es zu gewalttätigen Protesten gekommen war. Und auch in Chile nahm Präsident Piñera die Metro-Ticket-Preiserhöhung zurück. Doch der konservative Präsident machte auch seinen Standpunkt gegenüber den Protesten klar: «Wir befinden uns im Krieg mit einem mächtigen Feind. Dies ist ein Problem zwischen denen, die Freiheit und Demokratie wollen und in Frieden leben – und jenen, die dieses Land zerstören wollen. Diese Schlacht werden wir gewinnen.»
Die Hauptursache für die wachsende Unzufriedenheit unter der Chilenen ist die wachsende Schere zwischen Arm und Reich. Gemäss dem Stern gehören der unteren Hälfte der Bevölkerung lediglich 2,1 Prozent des Landes. Doch auch die Tatsache, dass der Mittelstand einen Zuwachs erreichte, täuscht über die wahren Begebenheiten hinweg. Die Mittelklasse in Chile lebt unter prekären Umständen: Die Löhne und die Renten sind tief, die Schulden hoch. Mit anderen Worten: Diejenigen, die es in die Mittelklasse geschafft haben, leben in der ständigen Angst, wieder abzusteigen. Und die Armen kämpfen immer mehr ums Überleben.
Wenn die Regierung den Forderungen – kostenfreier öffentlicher Transport und ein besseres Bildungssystem – der Demonstranten nachkommt, dann werden die Unruhen höchstwahrscheinlich stoppen. Doch damit ist nur das kleine Feuerchen gelöscht, das krasse soziale Gefälle und die Unzufriedenheit bleiben. (mim)