Immer wieder hören wir Berichte, dass Menschen im Mittelmeer ertrinken. Mit der Abschottung der EU-Staaten wurde es zu einem der gefährlichsten Grenzübergänge. In Pia Klemps Roman «Lass uns mit den Toten tanzen» erzählt eine Aktivistin und Kapitänin, wie sie mit ihrer Crew in See sticht, um Bootsflüchtlinge zu retten.
Auf der Flucht vor Krieg und Verfolgung versuchen tausende Menschen, sich über das Mittelmeer in Europa in Sicherheit zu bringen. In diesem Europa gehe es aber nicht darum, Leben zu retten, sondern nicht zu sehen, wenn Menschen sterben, schreibt die Kapitänin und Ich-Erzählerin mit Blick auf ihre Motivation zur Seenotrettung.
Subtil schildert sie, wie die neue Crew aus Weltverbesserern, die für drei Wochen an Bord bleibt, bei den Vorbereitungsarbeiten im Hafen allmählich zusammenwächst. Ohne «Crew love» geht nichts. Dabei kommt es zu witzigen Szenen: «Kette, Kette» rufen sie sich zu, als sie eine Kette bilden und sich die Schwimmwesten zuwerfen, die im Schiff verstaut werden sollen. Schliesslich singen sie frei nach Aretha Franklin «Chain, chain, chaiiiin – chain of fools».
Ein paar Federstriche charakterisieren Personen: «Er wäre gerne ein Sonnyboy, dafür hat er aber zuviel gesehen», sagt die Protagonistin über ihren Bootsmann. Ihr Schiff patrouilliert in internationalen Gewässern vor der libyschen Küste, die Crew hält Ausschau nach Schiffbrüchigen.
Als sie Boote entdecken, helfen andere NGO-Schiffe mit, die Flüchtlinge zu retten. Ein deutsches Kriegsschiff taucht auf und macht – nichts. Italien hat seine Schiffe in den Norden verlegt, «um ja niemanden aus Versehen zu finden». Am Ende des Tages haben die Kapitänin und ihre Crew 400 Gäste an Bord.
Die Kapitänin schlägt sich mit der Seenotrufleitstelle in Rom herum, die in dieser Seenotrettungszone bei Notfällen für die Koordination zuständig ist. Rom verspricht Küstenwachschiffe zu schicken, die die Menschen nach Italien bringen. «Doch wie immer sagt uns keiner wann».
Dass Frauen Schiffe führen, ist offenbar immer noch exotisch. Damit wird die Kapitänin oft konfrontiert. Sehr schön schildert sie das anhand eines Bilderbuchanlegemanövers: als es ihr gelingt, ihr Schiff im Hafen in eine kleine Lücke zwischen zwei angedockte dicke Offshore-Versorger zu manövrieren, schauen von dort die Besatzungsmitglieder mit anerkennendem Nicken zu. Und als sie sehen, dass eine Frau am Steuer ist, wenden sie sich beschämt ab. Schade, dass die Erzählerin an anderer Stelle eine Mackersprache verwendet, als sie hofft, «flachgelegt» zu werden.
Der Roman hat viel Drive, sarkastischen Humor und Ironie, er liest sich im Nu. Mit viel Beobachtungsgabe und Menschenkenntnis berichtet die Protagonistin in einer manchmal deftigen Umgangssprache. Es gibt überraschende Vergleiche, so hat etwa ihre Beziehung zu Schiffen etwas von «arrangierten Ehen, bollywoodmässig, mit einem schwierigen Anfang und einem Ende, bei dem alle mit überquellendem Herzen und fliegendem Konfetti tanzen».
Doch die Seenotrettung durch NGO stört offenbar. Den Versuch, sie zu kriminalisieren, überlässt die EU Italien.
Nach vielen Schikanen wird das Schiff schliesslich in Italien konfisziert und Anklage gegen die Kapitänin und ihre Crew wegen Menschenschmuggels erhoben. Das Seerecht verpflichtet allerdings alle Kapitäne dazu, Schiffbrüchige zu retten. Und im richtigen Leben hat der Uno-Hochkommissar für Flüchtlinge, Filippo Grandi, wiederholt die wichtige Rolle der NGO bei der Seenotrettung hervorgehoben.
Pia Klemp war selbst Kapitänin mehrerer Schiffsrettungsmissionen. Die Erlebnisse dieser Zeit verarbeitet sie in dem Roman, die Personen sind fiktiv, das Insiderwissen real. 2017 wurde eines ihrer Schiffe, die Iuventa, beschlagnahmt. Die italienische Staatsanwaltschaft ermittelt gegen Klemp und weitere Crew-Mitglieder wegen «Beihilfe zur illegalen Einwanderung». Da ihr in Italien U-Haft droht, kann sie derzeit keine Einsätze fahren.
Genauso wie die Seenotrettung durch NGO stört, wird auch dieses Buch stören, denn es handelt von Menschen, die nicht wegschauen, sondern hinschauen – und hingehen. (sda)