Nach ihrer Freilassung äussert sich die Sea-Watch-Kapitänin Carola Rackete nun erstmals gegenüber den Medien. Gegenüber dem «Spiegel» und dem Fernsehsender «ARD» schildert die 31-Jährige, wie sie die vergangenen Tage in Haft und die Wochen davor erlebt hatte. Die Seenotretterin war mit 40 Flüchtlingen fast 17 Tage im Mittelmeer unterwegs, bevor sie in der Nacht zum 29. Juni gegen den Willen der italienischen Regierung in Lampedusa anlegte.
Gegenüber dem «Spiegel» sagt Rackete: «Mich hat überrascht, wie persönlich es geworden ist. Es sollte um die Sache gehen. Um das Versagen der EU, die Geretteten gerecht aufzuteilen und diese Verantwortung zusammen zu übernehmen», so Rackete im Interview. Um sie als Einzelperson gehe es nicht und die Situation, in die sie geraten sei, habe sie sich nicht gewünscht.
Dass sie jetzt als eine Art Heldin und Vorkämpferin für Migranten gilt, sei bei ihr noch nicht richtig angekommen. Sie sei eine Person, die lieber agiere, statt zu reden.
Im Interview mit der «ARD» sagt die Kapitänin, sie befinde sich auf Sizilien, wolle aber den genauen Ort geheim halten. Sie werde von mehreren Seiten bedroht, darunter seien auch Morddrohungen. Sie habe sich aber entschieden, in Italien zu bleiben, weil sie am kommenden Dienstag zu einer weiteren Vernehmung antreten müsse.
Auf den italienischen Innenminister Matteo Salvini angesprochen, der Rackete in den vergangenen Tagen zum persönlichen Feindbild hochstilisiert hat, sagt sie gegenüber dem «Spiegel»: «Ich verfolge nicht, wie er sich äussert. Salvini ist niemand, dem ich persönlich begegnen möchte. Seine Politik verstösst gegen Menschenrechte. Seine Art, sich auszudrücken ist respektlos und für einen Spitzenpolitiker nicht angemessen.»
Dass Salvini Rackete derart ins Visier genommen habe, sei einer Verkettung von Umständen geschuldet. Salvini habe sein Dekret in einem Eilverfahren durchgedrückt, als sie auf der Sea-Watch 3 bereits Flüchtlinge aufgenommen habe.
Die 17 Tage an Bord der Sea-Watch 3 mit 40 geretteten Migranten seien bedrückend gewesen. «Jeden Tag wurde die medizinische und hygienische Situation schlimmer. Alles schien ausweglos.» Laut Rackete habe die Crew jeden Tag medizinische Berichte abgeschickt, an die Rettungsleitstelle in Rom, an den niederländischen Flaggenstaat, an den Hafen in Lampedusa. Auch politisch habe sich nichts getan. Es gab Anfragen an Malta, Frankreich, an die deutsche Regierung. «Es hiess immer, wir machen was. Aber es hat sich einfach keine Lösung abgezeichnet, nichts Konkretes.»
So spitzte sich die Situation auf dem Schiff immer mehr zu. Viele Gerettete hätten eigentlich von Spezialisten behandelt werden müssen, bei einem Mann lag einen Verdacht auf Tuberkulose vor, fast alle brauchten psychologische Betreuung. «Wenn wir die Leute zwei Wochen lang in solchen Zuständen behalten, ist das sehr explosiv», so Rackete gegenüber dem Spiegel. Am Ende sei die Lage nicht mehr tragbar gewesen und sie und die Crew nur noch verzweifelt.
Immer habe es geheissen: Eine Lösung stehe bevor, in den nächsten Stunden sei sie da. «Ich wollte ja nicht in den Hafen fahren, ich wollte dieses Gesetz nicht brechen.» Doch die Lösung kam nicht, also habe sie sich dann entschieden einzulaufen. Eine weitere Nacht mit den Flüchtlingen habe sie nicht verantworten können.
Im Interview mit dem «ARD» sagt Rackete: «Ich war vor allem unglaublich frustriert, weil wir wirklich zwei Wochen lang versucht haben, diese Situation zu lösen, mit allen legalen und politischen Mitteln und wir einfach dort sitzen gelassen wurden, niemand uns geholfen hatte. Letztlich habe sie keine andere Wahl gehabt.
Im Interview mit dem «Spiegel» wird Rackete auf den Zusammenstoss mit einem Schiff der italienischen Guardia di Finanza angesprochen. Ihr wurde vorgeworfen, sie habe beim unerlaubten Einfahren in den Hafen von Lampedusa die Gesundheit von Beamten auf dem Boot gefährdet.
Rackete allerdings sagt, dabei habe es sich um einen Unfall gehandelt. «Wir sind ganz langsam reingefahren, haben das Schiff gestoppt, gedreht, weil man rückwärts anlegt. Da habe ich gesehen, dass sich das Boot der Guardia di Finanza mitten an diesen Pier gelegt hatte, um zu verhindern, dass wir dort anlegen. Dass wir zusammengestoßen sind, war kein Angriff auf ein Kriegsschiff, wie mir vorgeworfen wurde.»
Im «ARD»-Interview ergänzt sie, es habe natürlich keine Absicht zu dieser Kollision gegeben. Diese habe sich aus der Situation ergeben und aus dem Fall, dass das Boot der Guardia di Finanza sich ihr aktiv in den Weg gestellt habe. «Ich denke, dass wir auf dieser Mission alles richtig gemacht haben. Am Ende ist es das Richtige, dass wir diese insgesamt 53 Personen gerettet und in einen sicheren Hafen gebracht haben.»
«Wir brauchen eine Lösung, wie in Europa Menschen aufgenommen werden, die zu uns flüchten. Und wie wir sie solidarisch verteilen.» Das Dublin-System, das die Verantwortung den Ländern mit Aussengrenzen überlässt, sei nicht gerecht, so Rackete im «Spiegel».
Im «ARD»-Interview sagt sie 31-Jährige zudem, warum sie die Flüchtlinge nicht nach Libyen, Tunesien oder Marokko zurückgebracht hat. Diese Länder seien zur Aufnahme von Flüchtlingen nicht geeignet. In Tunesien etwa gebe es kein Asylsystem. Am Abend sei ein Funkspruch der libyschen Küstenwache eingegangen mit der Aufforderung, die Flüchtlinge nach Tripolis zurückzubringen. Dazu sagte Rackete: «Das, ganz klar, können wir natürlich nicht annehmen, dazu gibt es viele Gerichtsurteile. Es verstösst gegen die Genfer Flüchtlingskonvention, und auch die EU-Kommission hat ganz klar gesagt, dass Libyen, das ganze Land Libyen keine sicheren Häfen hat. Es handelt sich ja schliesslich auch um ein Bürgerkriegsland.»
Die Kapitänin will sich den Vorwürfen gegen sie und die Sea-Watch in Italien in einem Prozess stellen. «Für den Fall, den wir nicht erwarten, dass eine Anklage zustande kommt, werde ich mich der selbstverständlich stellen, weil ich dann spätestens beim Gerichtsverfahren mit einem Freispruch rechne.»
Rackete hofft auf eine grundsätzliche Klärung durch die italienische Justiz. Entsprechend habe sich auch schon die italienische Richterin in der ersten Anhörung am vergangenen Dienstag, 2. Juli, positioniert. Im Interview mit dem «ARD» sagt Rackete: «Ich erwarte mir ein richtungsweisendes Urteil, was wir im Prinzip auch schon am Dienstag bekommen haben, was ja auch ganz klar feststellt, dass die Sicherheit der Menschen, die wir gerettet haben, wichtiger ist als der Anspruch der Staaten auf ihre Territorialgewässer und dass damit im Prinzip die sicheren Häfen wieder frei werden.»
(sar)
Das denke ich auch. Die Migrationsproblematik lässt sich nicht im Mittelmeer lösen, Menschen lassen sich da aber durchaus retten.