Während Israeli und Palästinenser am Wochenende jubelnd und unter Tränen freigelassene Geiseln und Gefangene begrüsst haben, geraten die Waffenruhen im Gaza-Streifen und im Libanon zunehmend ins Wanken. Noch während die vier israelischen Frauen Karina Ariev, Daniella Gilboa, Naama Levy und Liri Albag am Samstag nach mehr als 15 Monaten Geiselhaft auf dem Rückweg nach Israel waren, warfen sich Israel und die Hamas gegenseitig Verstösse gegen die Abmachung vor.
Die Hamas hatte die Freilassung aller Zivilisten noch vor den entführten Soldaten zugesagt. Die vier Frauen aber waren zum Zeitpunkt ihrer Entführung Wehrdienstleistende. Nicht unter den Freigelassenen war hingegen die 29-jährige Arbel Jehud. Sie soll sich nicht in der Hand der Hamas, sondern des Islamischen Dschihad befinden, einer militanten Palästinenser-Gruppe neben der Hamas.
Israels Regierungschef Benjamin Netanyahu kündigte an, die vereinbarte Rückkehr von Vertriebenen in den Norden des Küstenstreifens erst nach einer Garantie für ihre lebende Rückkehr in der kommenden Woche zu erlauben.
Südlich des israelisch besetzten Netzarim-Korridors hatten sich am Samstag bereits Tausende Menschen versammelt, um in ihre zerstörten Heimatorte zurückzukehren, als Schüsse fielen. In einem von der britischen BBC verifizierten Video sind vier Schüsse zu hören, während Menschen panisch fliehen. Das von der Hamas geleitete Gesundheitsministerium meldete einen Toten. Die israelische Armee bestritt den Bericht und sprach von Warnschüssen.
Video from near Gaza’s Netzarim Corridor showed crowds ducking and running for cover as Israeli forces opened fire on displaced Palestinians waiting to return to northern Gaza. pic.twitter.com/krxTYGwPBr
— Al Jazeera English (@AJEnglish) January 25, 2025
Die Hamas heizte die Spannungen weiter an, indem sie die Übergabe der vier jungen Frauen auf dem Palästina-Platz in Gaza-Stadt zu einer teils bizarren Show machte. Umringt von hunderten bewaffneten und vermummten Hamas-Kämpfern mussten sie vor den Augen Hunderter Zuschauer auf eine Bühne klettern. Die am 7. Oktober 2023 in ihren Pyjamas entführten Frauen waren dafür in Armeeuniformen gekleidet worden. Im Hintergrund verkündete ein Banner den «Sieg des unterdrückten Volkes gegen den Nazi-Zionismus».
Im Gegenzug liess Israel insgesamt 200 palästinensische Gefangene frei. Unter ihnen sind 121 mit lebenslangen Haftstrafen, zum Teil für tödliche Anschläge auf Israelis. 70 für schwerwiegende Taten verurteilte wurden nach Ägypten, 16 in den Gaza-Streifen gebracht. In Ramallah im israelisch besetzten Westjordanland wurden die übrigen 114 Gefangenen von einer jubelnden Menge mit Palästina- und Fatah-Fahnen begrüsst.
«Zu hören, dass ich freikommen soll, war überwältigend», sagte der 30-jährige Azzam, nachdem er in grauer Gefängniskleidung aus einem ICRC-Bus gestiegen war. Viele der Freigelassenen wirkten sichtlich erschöpft. «Wir wurden drei Tage lang geschlagen und gedemütigt vor unserer Freilassung», sagte der 31-jährige Tarek Abdel Yahya aus Dschenin.
Das Abkommen zwischen Israel und der Hamas sieht in einer ersten Phase bis Ende Februar die Freilassung von 26 weiteren israelischen Geiseln und hunderten palästinensischen Gefangenen vor. In einer zweiten Phase sollen die übrigen Geiseln freikommen, während sich die israelische Armee aus dem Gaza-Streifen zurückzieht. Bisher haben die Verhandlungen für die zweite Phase jedoch nicht begonnen.
Fragil ist auch die Ende November zunächst für zwei Monate beschlossene Waffenruhe zwischen der libanesischen Hisbollah und Israel. In den vergangenen 60 Tagen hatten sich beide Seiten aus dem Süden des Libanon zurückziehen sollen. Netanyahu teilte schon am Freitag mit, die Frist für den Abzug nicht einhalten zu wollen. Er wirft dem Libanon vor, dessen Armee habe nicht schnell genug die Kontrolle über den Süden des Landes übernommen. Mindestens drei Menschen starben am Sonntag nach Angaben des libanesischen Gesundheitsministeriums, nachdem israelische Soldaten das Feuer auf Vertriebene eröffnet hatten, die in ihre Häuser zurückkehren wollten.
Die grosse Unbekannte für die Zukunft der Abkommen aber ist der neue US-Präsident Donald Trump, der am Samstag einen Einblick in seine Pläne für die Region gab. Ihm zufolge sollten die im Gaza-Streifen lebenden Palästinenser in andere arabische Staaten umsiedeln. Der zerstörte Küstenstreifen solle «einfach gesäubert» werden. Als Aufnahmeländer nannte er Ägypten und Jordanien, die in der Vergangenheit jedoch mehrfach deutlich gemacht hatten, keine Palästinenser aus Gaza aufnehmen zu wollen.
I'm genuinely curious how Arab nations are going to respond to Trump on this. He's literally calling for the expulsion of Palestinians from Gaza. pic.twitter.com/t4LyNGB08H
— Aaron Astor (@AstorAaron) January 26, 2025
Je nach politischem Lager sorgten Trumps Äusserungen entweder für Begeisterung oder Entsetzen. Zudem gab er die Auslieferung weiterer 2000-Pfund Bomben an Israel frei, die sein Amtsvorgänger Biden gestoppt hatte. (aargauerzeitung.ch)