Zwei Tage vor den Wahlen im Irak weiss Abdulsahib al Salami immer noch nicht, wen er wählen soll. Er sitzt in einem Restaurant im Bagdader Mansour-Viertel und sagt: «Wenn ich die Plakate auf den Strassen sehe, denke ich: Nicht schon wieder! Immer die gleichen Gesichter.»
Vor zwei Jahren, als im Oktober 2019 Tausende junge Irakerinnen und Iraker auf die Strasse gingen und gegen Gewalt und Korruption zu protestieren, war Al Salami mit dabei. Der Student hat die jüngere Geschichte des Irak sozusagen am eigenen Leib erlebt. Erst starb sein Vater 2006 bei einem Selbstmordanschlag, dann kam der Bruder eines Freundes bei den Protesten auf dem Bagdader Tahrir-Platz ums Leben.
Jetzt wünscht sich Al Salami einen Neuanfang. «Dieses Land muss sich verändern, damit meine Generation eine Zukunft hat», sagt er und zündet sich eine Zigarette an. Auf der Packung steht «Change».
Noch sind die endgültigen Resultate der irakischen Parlamentswahl vom Sonntag nicht bekannt. Einen wirklichen Neubeginn jedoch wird es kaum geben. Denn im Irak, wo vor kurzem noch der IS für Angst und Schrecken sorgte, teilen sich mächtige schiitische, sunnitische und kurdische Politbosse seit Jahren die Macht.
Und jeder weiss: Wird das fragile Gleichgewicht gestört, könnte das Land so enden wie Afghanistan, wo die Taliban die vom Westen unterstütze Regierung einfach überrannten.
Doch während in Kabul inzwischen die Islamisten regieren, wirkt Bagdad so stabil wie seit Jahren nicht mehr. Zwar ist die Stadt immer noch ein Moloch voller Sprengschutzwälle und schwerbewaffneter Soldaten. Doch in Vierteln wie Mansour oder Karada sind längst moderne Shoppingmalls und Cafes entstanden, wo vor allem junge Irakerinnen und Iraker ihre neue Freiheit geniessen.
Lange Zeit war das alles andere als selbstverständlich. Doch viele Iraker haben heute schlicht genug von der brutalen Vergangenheit. Es war vor allem der Kampf gegen den IS, welcher im Irak für ein Umdenken gesorgt hat. «Die Terrorgruppe IS war so brutal, dass sich sogar jene Iraker von ihr distanzierten, die die Terroristen anfänglich noch unterstützt hatten», sagt Abbas Al Anburi, der Leiter der Bagdader Denkfabrik Riwaq.
Doch der Sieg gegen den IS hatte auch seinen Preis. Es waren vor allem von Teheran unterstütze Schiiten-Milizen, die 2014 gegen den IS in die Schlacht zogen. Bis heute hängen an den Strassen der schiitischen Viertel von Bagdad deshalb die Märtyrerbilder der Gefallenen. Doch die Milizen, die den Irak einst vor dem Untergang retteten, sind längst zu einem Staat im Staat geworden.
«Viele Gruppen haben sich der staatlichen Kontrolle entzogen», sagt der Politikwissenschaftler Al Anburi. Gegen die lauter werdende Kritik an ihrer radikalen Haltung gingen die Milizen mit einer regelrechten Mordkampagne vor. Die Wut vor allem der jungen Iraker hat das nur verstärkt.
Genährt wird die Wut auch von anderen Dingen. So müsste der Irak mit seinen Ölvorkommen eigentlich ein reiches Land sein. Doch der Staat ist korrupt und immer mehr junge Leute finden keine Arbeit. Viele Taxifahrer in Bagdad sind ehemalige Studenten, die auf dem völlig ausgedünnten Arbeitsmarkt keine Chance haben.
Die Perspektivlosigkeit führen bei vielen zu Demokratieverdruss. Die Wahlbeteiligung fällt stetig. Manche der Oppositionsgruppen, die sich nach den Protesten vor zwei Jahren gebildet hatten, boykottieren den Urnengang komplett.
Andere hingegen, wollen nicht aufgeben. Wie Amir Al Habubi. Zwei Tage vor der Wahl sitzt der 28-jährige in einem Schnellrestaurant in Bagdad. Während des Gesprächs hantiert er mit drei Handys gleichzeitig. Al Habubi will ins Parlament – als jüngster Abgeordneter überhaupt.
Al Habubi war ebenfalls bei den Protesten dabei gewesen und tritt jetzt als Unabhängiger an. Er weiss dass seine Chancen nicht gut stehen. Trotzdem macht er weiter. Warum? «Wer dieses Land retten will, muss sich zur Wahl stellen. Egal wie schlimm es ist: «Der Irak ist immerhin noch eine Demokratie.»»