Fahrije Hoti hält immer wieder inne und schaut ihrem Gegenüber in die Augen. Sie lächelt kurz, streicht sich die rot getönten Haare von der Stirn und erzählt dann weiter von jenem Tag, der ihr Leben zerstörte. Es war der 25. März 1999, ein Donnerstag. Sie erwachte kurz nach fünf Uhr und hörte draussen Schüsse und Geschrei.
Seit Monaten tobte der Krieg im Kosovo, doch bis hierhin ins Bauerndorf Krusha e Madhë hatte es der Terror noch nicht geschafft. Fahrije weckte ihre dreijährige Tochter und packte ihren dreimonatigen Sohn unter den Arm. Vor dem Haus traf sie auf ihren Ehemann Bashkim. «Die Serben haben das Dorf umstellt, versteckt euch», rief er ihr zu. Dann lief er davon. Es war das letzte Mal, dass sie ihn sah.
Die junge Mutter ging mit ihren Kindern in die Gegenrichtung zum Wald. Das halbe Dorf versammelte sich dort und harrte bis zum nächsten Morgen aus. Dann wurden sie von den Serben gefunden. Die Frauen wurden in der Dorf-Moschee zusammengetrieben, ein Teil der Männer auf einen Lastwagen verladen, die übrigen in ein leeres Haus gedrängt und erschossen. Die serbischen Truppen steckten das Haus in Brand. 182 Männer kamen ums Leben. Die Frauen wurden aus dem Dorf gejagt. «Geht Richtung Westen, ab in den Tod», schrien ihnen die uniformierten Männer nach.
Fahrije lief, tagelang. Immer wieder wurde sie von serbischen Armeefahrzeugen überholt, von Soldaten ausgelacht, angespuckt, angepinkelt. In der Gegend von Rugova trafen die Frauen von Krusha e Madhë auf eine serbische Strassensperre.
Einer der Polizisten nahm ihr ihren dreimonatigen Sohn weg und hielt ihn in die Luft. Sie gab ihm Geld, alles, was sie hatte. Er steckte es ein, liess das Baby fallen und fuhr mit seinen Männern davon. Fahrije hob das Kind vom Boden auf und ging weiter, immer weiter, bis über die albanische Grenze. Drei Monate wartete sie da, bis der Krieg im Juni zu Ende war. Dann kehrte sie heim in ihr zerstörtes Dorf.
Jetzt sitzt die 49-Jährige an einem Tisch in einem weissen Containerraum. An der Wand hängen Fotos von Bauernfrauen und eingerahmte Zertifikate. Der Container ist das Hauptquartier von Fahrijes Landwirtschaftskooperative, die sie vor neun Jahren gegründet hat. Sie sagt, das sei ihr Versuch, eine neue Realität zu schaffen.
Doch draussen in der Landschaft hier im Westen des Kosovo ist die alte Realität noch überall greifbar. Denkmäler und Strassennamen erinnern an die gefallenen Kriegshelden, die Insignien der kosovarischen Befreiungsarmee UÇK finden sich überall. Der Krieg ist seit 20 Jahren vorbei. Doch den Menschen sitzt er noch heute tief in den Knochen.
Als die Serben die Bauernfamilien von Krusha e Madhë massakrierten, war die Situation in der damaligen jugoslawischen Teilrepublik Kosovo längst ausser Kontrolle geraten. Seit Februar 1998 bekämpften sich die Truppen von Serbenführer Slobodan Milosevic und die Guerilla-Verbände der kosovarischen UÇK. Milosevic wollte mit aller Macht verhindern, dass der jugoslawische Rumpfstaat weiter auseinanderbrach. Die UÇK wollte die mehrheitlich albanischstämmige Bevölkerung des Kosovo aus dem serbischen Klammergriff befreien.
Am 24. März 1999, vor genau 20 Jahren, entschied die Nato unter der Führung der USA, den Kriegsgräueln im Kosovo mit der «Operation Allied Forces» ein Ende zu bereiten. Die westliche Allianz griff zum äussersten Schritt: einer militärischen Intervention, ohne UNO-Mandat und ohne direkte Bedrohung eines Nato-Mitgliedstaates. Der Kosovo-Krieg war der erste «humanitäre Kriegseinsatz» der Nato.
UNO-Generalsekretär Kofi Annan sagte in den ersten Tagen des Krieges, es gäbe Zeiten, in denen die Anwendung von Gewalt für die Bemühungen um den Frieden legitim sein könne. US-Präsident Bill Clinton erklärte seinen Landsleuten in einer Fernsehansprache aus dem Weissen Haus, das einzige Ziel dieses Krieges sei es, die serbischen Truppen aus dem Kosovo zu verdrängen und die Gräuel in der Teilrepublik zu beenden.
1200 Kampfjets aus 14 Nationen flogen Einsätze gegen Milosevics Truppen, 650 Dörfer wurden zerstört, schätzungsweise 13'500 Menschen kamen im Bombenregen ums Leben. Rund die Hälfte aller Landwirtschaftsflächen im Kosovo war nach dem Krieg verwüstet, ein Drittel der Häuser unbewohnbar.
In Krusha e Madhë war nach dem Krieg nichts mehr wie zuvor. 793 Häuser lagen in Schutt und Asche. Doch es waren nicht die eingestürzten Mauern ihrer Häuser, die den Frauen des Dorfes den Boden unter den Füssen wegzogen. Es waren die verschwundenen Männer. Als Fahrije Hoti und ihre Nachbarinnen im Juni 1999 heimkehrten, realisierten sie erst richtig, was damals im März passiert war.
Sie standen vor den verkohlten Leichenbergen, manche schreiend, manche schweigend, alle ratlos. Das Massaker, das ihnen die Männer raubte, gilt als eines der schlimmsten des Kosovo-Krieges. In der Anklageschrift gegen Milosevic, der sich vor dem Kriegsverbrechertribunal in Den Haag für seine Rolle im Krieg verantworten musste, wurde das Massaker prominent erwähnt. Doch Milosevic starb noch vor der Urteilsverkündung in seiner Zelle. Gerechtigkeit ist den Frauen von Krusha e Madhë nie widerfahren.
Fahrije trägt ihren Ehering noch heute an der linken Hand. Er ist das Einzige, was ihr von ihrem Mann geblieben ist. 170 Euro erhält sie monatlich als Rente – genau wie die 138 Witwen in Krusha e Madhë. Antworten darüber, was mit ihrem Mann passiert ist, erhielt sie nie. «Das hängt über mir wie ein Schatten. Ich werde ihn einfach nicht los», sagt Fahrije.
2003 gründete sie den Verein «Witwen von Krusha». Fahrije und die anderen Frauen im «Dorf der Kriegswitwen» setzten sich zum Ziel, ihre verschwundenen Männer zu finden. Unterstützung erhielten sie kaum, die Suche nach jenen Männern, die nie gefunden worden sind, blieb erfolglos.
2010 entschied sich Fahrije deshalb, selber in die Rolle der Männer zu schlüpfen, die nicht mehr da waren. Sie gründete die landwirtschaftliche «Kooperative Krusha», stellte zwei Dutzend Kriegswitwen aus dem Dorf ein und begann, Peperoni, Kartoffeln, Zwiebeln und Gurken von den Feldern rund um das Dorf einzukochen und auf den Märkten der Region zu verkaufen. «Arbeiten heilt», sagt Fahrije.
Heute beschäftigt ihre Kooperative 48 Angestellte. Dazu kommen Dutzende Bauern aus der Region, die ihr Gemüse hier in die weisse Container-Siedlung bringen, wo Fahrijes Frauen daraus in riesigen Kesseln «Ajvar» – die würzige albanische Peperoni-Sauce – und andere Spezialitäten produzieren. Sie arbeiten in zwei Schichten, rund um die Uhr. 600 Tonnen Gemüse kochten Sie im vergangenen Jahr ein. Sie beliefern Märkte im ganzen Land, exportieren nach Deutschland und in die Schweiz.
Vieles ist heute anders, professioneller, grösser als vor neun Jahren, als Fahrije die Kooperative gründete. Eines aber ist geblieben: das Logo auf den Einmachgläsern. Es zeigt eine Bauernfrau mit weissem Kopftuch. «Am Anfang trugen wir das Kopftuch aus Solidarität mit unseren verschwundenen Männern», sagt Fahrije. Heute erzähle sie den Kunden einfach, es stehe für den Frieden.
Fahrije ist stolz darauf, dass sie den Witwen von Krusha mit der Kooperative Beschäftigung und Würde geben kann. Ihr Sohn, der als Baby von dem serbischen Polizisten auf die Strasse fallen gelassen wurde, studiert heute Lebensmitteltechnologie in Pristina. Er möchte die Kooperative dereinst übernehmen. «Aber solange ich hier bin, bleibe ich der Chef», sagt Fahrije und lacht, für einmal laut und herzlich.
Was damals im März 1999 genau mit ihrem Mann passiert ist, ob er irgendwo im verkohlten Leichenberg lag oder mit dem Lastwagen Richtung Fluss transportiert wurde, das weiss Fahrije bis heute nicht. 1666 Personen gelten im Kosovo noch immer als Kriegsvermisste, darunter auch 59 Männer und Knaben aus ihrem Dorf. 20 Jahre nach dem Krieg hat Fahrije die Suche aufgegeben. Das Grab von Bashkim auf dem weissen Friedhof von Krusha e Madhë bleibt leer.
Es macht mich unglaublich traurig und hilflos, mitansehen zu müssen, wie albanische, kosovarische, serbische, bosnische, kroatische und nordmazedonische Menschen den Hass von Generation zu Generation weitergeben.
Jede Seite sagt das gleiche über die andere. Können wir uns nicht einigen, dass Kriege nicht geführt werden sollten? Am Ende des Tages bleiben nur Leid, noch mehr Hass und Menschen, die ihre Menschlichkeit verloren haben.