Ganz kurz nur streifte der Suchscheinwerfer der Weltöffentlichkeit den Nordosten Nigerias. In der Nacht auf den 15. April 2014 hatten Kämpfer der islamistischen Terror-Sekte Boko Haram 276 Schülerinnen aus einem Internat in der Provinzstadt Chibok entführt. Schülerinnen. Geraubt, versklavt und verheiratet. Ein Verbrechen, so scheusslich, dass es die Welt interessierte, obwohl es in Afrika stattfand.
Die digitale Solidaritätsmaschinerie setzte sich in Gang. Über Twitter verbreitete sich der Hashtag «Bring back our girls». Michelle Obama, Julia Roberts, Emma Watson posteten den Slogan in die sozialen Netzwerke. Für kurze Zeit stand Chibok im nigerianischen Bundesstaat Borno im Fokus der westlichen Presse. Prominente protestierten. Regierungen reagierten. Für die Mädchen änderte sich nichts, sie blieben in der Gewalt Boko Harams. Aus «unseren» Mädchen wurden bald wieder afrikanische Mädchen.
Nur wenigen Frauen gelang bis heute die Flucht aus den Fängen von Boko Haram. Der deutsche Journalist Wolfgang Bauer hat über 70 ehemalige Geiseln interviewt. Ihre Geschichten erscheinen nun im Buch «Die geraubten Frauen». Das Buch zeigt: Die Tragödie, die sich im Nordosten Nigerias und im angrenzenden Tschad und Kamerun immer noch abspielt, ist weit komplexer, weitreichender, gewaltiger als die Entführung der Schülerinnen von Chibok. Gemäss konservativen Schätzungen entführte Boko Haram in den letzten Jahren über 2000 Frauen. Sie wurden eingesperrt, vergewaltigt, zwangsverheiratet und versklavt. Es ist das perverse Handwerk einer islamistischen Terror-Sekte, über die nur wenig bekannt ist – und deren Handwerk weitreichende Folgen haben könnte, bis nach Europa, bis in die Schweiz.
Die Opfer sind Frauen wie Sadiya, Sakinah, Agnes, Batula, Clara und Talatu. Frauen im Alter zwischen 8 und 50 Jahren. Sie alle hatten ein Leben vor Boko Haram, ein entbehrungsreiches zwar, eines in bitterer Armut, aber trotzdem: ein Leben. Sie waren Geburtshelferinnen, Händlerinnen, Mütter, Jugendliche, Kinder. Dann gerieten sie in die Gewalt der Terroristen. Seither stehen selbst jene, die das Glück hatten, fliehen zu können, vor dem Nichts. Sadiya, die vor ihrer Entführung an einer Bushaltestelle Bohnenkuchen verkaufte, sagt: «Sie haben mir nur meinen Namen gelassen. Alles andere haben sie mir genommen.»
Die Erzählungen der Frauen sind kaum zu ertragen. Die Unerträglichkeit, schreibt Bauer in seinem Buch, fühlen wir auch deshalb so stark, «weil sie (Anm. die Frauen) uns zeigen, wie beschränkt unser eigener Blick immer noch ist. Wie eng der Ausschnitt unserer Wahrnehmung. Wie kümmerlich unser Verständnis von dieser Welt und von dieser Zeit, die wir die ‹unsere› nennen».
Zwei Monate hat Bauer die Gespräche vorbereitet. Sie waren gefährlich, für ihn, für den Fotografen Andy Spyra und für die Frauen. Die Journalisten mussten die Opfer im Verborgenen treffen. Denn noch immer ist Boko Haram im Nordosten von Nigeria präsent. Westlichen Besuchern droht Entführung, den Frauen der Tod. Und trotz all dem gehörten Leid, sagt Bauer: «Was mir vor allem auch in Erinnerung bleibt, ist die unglaubliche Kraft, die von diesen Frauen ausgeht.»
Die Geschichte der Opfer ist komplex. Aus mancher Entführten ist eine Täterin geworden. Bei den Internatsschülerinnen aus Chibok war Boko Haram mit ihrer Gehirnwäsche besonders erfolgreich. Viele der Mädchen lehren heute andern Geiseln den Koran – entführte Frauen berichteten Bauer, dass sie dabei brutale Formen körperlicher Bestrafung einsetzen. Andere töten sogar für Boko Haram. 120 Mädchen und Frauen verübten bis im Januar 2016 Selbstmordanschläge, bei denen 750 Menschen starben und 1200 verletzt wurden. Einige sprengten sich freiwillig in die Luft, andere wurden gezwungen – und von Boko Haram per Fernzünder als Bombe eingesetzt. Keine Waffe der Islamisten in Frika tötet heute mehr Menschen als die Mädchen.
Boko Haram ist bis heute eine mysteriöse Organisation, über die laut Bauer «weniger bekannt ist als über die Machthaber Nordkoreas». Lange wurde die Gruppierung auch in Nigeria nicht wahrgenommen. Die islamistische Sekte begann im Schatten zu wuchern, im Norden dieses 190-Millionen-Einwohner-Landes, dort wo Dürre und Korruption den Menschen im Schnitt einen Dollar pro Tag zum Überleben lassen, weit weg vom nigerianischen Machtzentrum im Süden, wo das Öl zumindest der obersten Schicht einen üppigen Reichtum ermöglicht und die Natur tropisch spriesst.
Nigeria ist empfindlich: ein ölreicher Staat, 514 Völker, geteilt in einen christlichen Süden und einen muslimischen Norden. Die Extremisten sind auf dem Vormarsch. Im Süden hetzen christliche Fundamentalisten, gegen verhexte Kinder, Muslime; im Norden sickern von Libyen her Waffen und immer radikalere Formen des Islams ins Land. Bauer nennt den Norden eine Brandungszone der Religionen, mit einem praktisch inexistenten Staat.
Nigeria war nie ein afrikanisches Hoffnungsland. Boko Haram hat das fragile Gleichgewicht Nigerias vollends zerstört. Jahrzehntelang hielt die Armee das Land im Würgegriff. Über 400 Milliarden brachten die vorwiegend militärischen Machthaber seit der Unabhängigkeit 1960 aus dem Land. Die Parteien, die seit 1998 halbwegs demokratisch an der Macht sind, schliffen das Militärbudget sukzessive, um die Gefahr eines Militärcoups zu minimieren. Als Folge kämpft eine Schrumpfarmee von 80'000 Mann gegen eine fanatische, gut ausgerüstete Glaubensarmee.
Ende Oktober 2014 beherrschte Boko Haram ein Territorium von der Grösse Belgiens. Seither hat eine internationale Militärallianz die Terror-Sekte zurückgedrängt. Heute sind zwar alle grossen Städte im Nordosten befreit, doch im Busch ist Boko Haram immer noch sehr präsent. «Wo immer sich die internationale Koalition zurückzieht, ist Boko Haram sofort wieder präsent», sagt Bauer.
Boko Haram schloss sich im März 2015 dem «Islamischen Staat» an. Heute werden in Libyen Kämpfer der Terror-Sekte unter der «IS»-Flagge eingesetzt. Im Gegenzug fliessen Geld und Waffen aus dem gescheiterten Staat in Nordafrika durch die Sahara Richtung Westafrika. «Syrien hat uns gezeigt, was passiert, wenn man zu lange die Augen verschliesst», sagt Bauer. Werde Westafrika nicht stabilisiert, dann müsse Europa mit Hunderttausenden Flüchtlingen rechnen. Und mit Boko-Haram-Terroristen, die Anschläge in Europa ausüben. Bauer sagt: «Wenn wir über das Blut anderer hinwegsehen, werden wir bald in unser eigenes Blut schauen.»
Wolfgang Bauer. Die geraubten Mädchen – Boko Haram und der Terror im Herzen Afrikas. Suhrkamp.