Luftschläge, Belagerung und bald wohl auch eine Bodenoffensive - nach den brutalen Terror-Angriffen der Hamas schlägt Israel mit Härte zurück. Das Ziel: Die vollständige Vernichtung der Hamas im Gazastreifen.
Vor diesem Hintergrund wachsen im Westen und vor allem in der arabischen Welt die Klagen, die israelischen Streitkräfte würden den Schutz der palästinensischen Bevölkerung vernachlässigen und viele zivile Opfer in Kauf nehmen. Zur Erinnerung: Neben den im Gazastreifen vermuteten 30'000 Hamas-Mitgliedern leben im dicht besiedelten Küstengebiet auch rund 2 Millionen Zivilisten, rund die Hälfte davon sind minderjährig. Nicht nur die UNO und Menschenrechtsorganisationen befürchten ein humanitäres Desaster: Er vertraue darauf, dass Israel die «Regeln des Kriegs» einhalten werde, mahnte US-Präsident Joe Biden den israelischen Premier Benjamin Netanyahu am Montag stellvertretend für viele westliche Regierungschefs.
Aber was sind diese «Regeln des Krieges» und woran muss sich Israel in der Praxis konkret halten? Eine Übersicht.
Die Charta der Vereinten Nationen (UNO) sieht in Artikel 51 eine Ausnahme vom generellen Gewaltverbot vor, wenn ein Staat von einem anderen angegriffen wird. Dann gilt das Recht zur Selbstverteidigung. Obwohl für Kriege unter Staaten geschaffen, gehen die meisten Rechtsexperten davon aus, dass die Klausel auch im Fall des Angriffs der Terror-Organisation Hamas gilt. Das Recht gilt so lange, wie der Angriff andauert. Aber auch die Verhinderung weiterer Angriffe ist gedeckt.
Israel darf also eine offensive Militäroperation durchführen, um das Potenzial der Hamas auszuschalten. Zwar gilt das Gesetz der Verhältnismässigkeit. Welche Mittel Israel zur Erreichung seiner Ziele einsetzt, liegt aber erst einmal in seinem Ermessensspielraum. Dazu gehört höchstwahrscheinlich auch eine Bodenoffensive.
Findet ein bewaffneter Konflikt statt, dann kommt das humanitäre Völkerrecht zum Tragen, auf Lateinisch: «ius in bello». Und zwar ungeachtet dessen, wer verantwortlich für den Krieg ist. Israel muss selbst dann das humanitäre Recht einhalten, wenn die Hamas Kriegsverbrechen begeht und Zivilisten ermordet oder sie als menschliche Schutzschilde missbraucht. Grundlage ist die Genfer-Konvention von 1949 und deren Anhänge von 1977.
Der oberste Grundsatz lautet: zivile Opfer vermeiden. Die Kriegsparteien müssen zu jedem Zeitpunkt unterscheiden zwischen Zivilisten und Kämpfern. Das ist in Gaza schwierig, weil sich die Hamas gezielt unter Zivilisten mischt und sich in Krankenhäusern, Schulen oder Moscheen einquartiert. Eine Abgrenzung zu legitimen militärischen Zielen ist schwierig und hängt vom Einzelfall ab.
Falls zivile Opfer in Kauf genommen werden müssen, gilt auch hier das Gesetz der Verhältnismässigkeit: Ein Militärschlag ist dann verboten, wenn die Anzahl von zivilen Opfern im Verhältnis zum konkreten militärischen Nutzen «übermässig» wäre.
Die totale Blockade des Gazastreifens durch Israel, also das Abschneiden von Wasserversorgung, Nahrung und Elektrizität, wurde von der UNO bereits als unzulässig angeprangert. Tatsächlich heisst es in Artikel 54 des Anhangs der Genfer-Konvention, es sei verboten, Infrastrukturen «anzugreifen, zu zerstören oder funktionsunfähig zu machen, die zum Überleben der Zivilbevölkerung notwendig sind». Das würde einer Kollektivstrafe gleichkommen.
Allerdings gilt das nicht, wenn die Infrastruktur klar von den gegnerischen Kräften genutzt wird, in diesem Fall der Hamas. Entscheidend dürfte wohl sein, wie lange die Blockade anhält und ob dadurch wirklich Zivilisten zu Schaden kommen.
Unklar ist auch, inwiefern die israelische Aufforderung zur Flucht an rund 1 Million Zivilisten zulässig ist. Laut dem Internationalen Roten Kreuz (IKRK) ist die Fluchtaufforderung kombiniert mit der Blockade «nicht vereinbar mit internationalem humanitärem Recht». Grund sei, dass die Bedingungen den Menschen nicht zugemutet werden könnten. Andererseits ist eine Evakuierung der gegnerischen Zivilbevölkerung dann möglich, wenn es militärisch notwendig ist. Diese muss aber temporär sein, sonst handelt es sich um «Vertreibung».
Das Problem der «Regeln des Kriegs» sind nicht nur ihre Interpretationsspielräume, sondern auch die Durchsetzbarkeit. Zuständig wäre der Internationale Strafgerichtshof (ICC) in Den Haag. Tatsächlich untersucht der ICC bereits mögliche Verbrechen, die beim Gaza-Konflikt im Jahr 2014 auf beiden Seiten begangen worden sein sollen. Israel ist dem ICC im Gegensatz zu Palästina aber nie beigetreten.
Kurzfristig entscheidend dürfte im aktuellen Krieg jedoch etwas anderes sein: Bricht Israel offenkundig humanitäres Völkerrecht, läuft es Gefahr, nicht nur die öffentliche Legitimation für seine Militäroperation, sondern auch die Unterstützung seiner westlichen Alliierten zu verlieren. (aargauerzeitung.ch)
https://www.theguardian.com/world/2023/oct/22/an-atmosphere-of-fear-free-speech-under-threat-in-israel-activists-say