Beim Blick auf die Weltlage kommt wenig Freude auf. Wladimir Putins Truppen sind in der Ukraine auf dem Vormarsch. Manche sehen schon die russische Trikolore über Kiew flattern. Im Gaza-Krieg ist kein Ende in Sicht. Die Hamas taucht an Orten wieder auf, in denen sie besiegt schien. In Europa und den USA haben Rechtspopulisten Aufwind.
Schuld an der Misere ist der Westen, hört und liest man derzeit häufig. Seine Schwäche habe Putin und die Hamas-Terroristen zum Angriff ermutigt. Als Beleg dient der desaströse US-Abzug aus Afghanistan 2021, der die Taliban an die Macht zurückbrachte. All das wäre nicht passiert, wenn er noch im Weissen Haus wäre, posaunt Donald Trump.
Übersehen wird, dass sich beide Kriege seit Jahren angebahnt hatten. Der Westen mag daran nicht ganz unschuldig sein. Aber die Hauptverantwortung liegt bei der Ukraine und Israel. Sie haben die Bedrohung verdrängt und unterschätzt. Ohne das Versagen der Israelis wäre der fürchterliche Hamas-Terror am 7. Oktober 2023 nicht möglich gewesen.
In der Ukraine hat sich die Dynamik des Krieges in Richtung des Aggressors verschoben. Es scheint sich zu wiederholen, was Napoleon Bonaparte und Adolf Hitler erfahren mussten: Die Russen machen zu Beginn fast alles falsch, aber sie lernen aus ihren Fehlern. Das zeigt sich beim Luftkrieg und zuletzt beim Einmarsch in der Region Charkiw.
Für die «NZZ am Sonntag» ist der Fall klar: «Die Schwierigkeiten, in denen die ukrainischen Soldaten nun stecken, hat der Westen verursacht.» Ja, die Republikaner in den USA haben Waffenlieferungen blockiert. Aber gleichzeitig haben die Ukrainer ein Gesetz verschleppt, das neue Rekrutierungen ermöglichen und die erschöpften Truppen an der Front entlasten würde.
Und wie kann es sein, dass die Ukrainer ihre Frontlinie so schlecht befestigt haben, dass die Russen quasi ungehindert über die Grenze marschieren konnten? Man stellt sich im dritten Kriegsjahr die irritierende Frage, ob sie den Ernst der Lage wirklich erkannt haben. Und ob sie die Verantwortung für ihr Überleben nicht gar einfach auf den Westen abwälzen.
Der Westen könnte mehr tun, aber ohne seine militärische und finanzielle Hilfe wäre es um die Ukraine geschehen. Gleichzeitig fragt man sich, wie weit Putin gehen will. Ganz so klar ist die Lage nicht. «Das Hauptziel der Russen bleibt die Einnahme des gesamten Donbas», sagte der Militäranalyst und Russland-Experte Michael Kofman der «New York Times».
Der gebürtige Ukrainer hat sich mit seinen Einschätzungen zum Kriegsverlauf mehrfach hervorgetan. Mit dem Vorstoss Richtung Charkiw wolle Putin die Ukraine zwingen, Einheiten von der Donbas-Front abzuziehen, meint Kofman. Die Eroberung des ganzen Nachbarlands aber bleibt eine Herausforderung. So stellt sich die Frage, ob sie im Interesse Chinas wäre.
Der Besuch von Wladimir Putin bei Xi Jinping diese Woche in Peking ist für Westen-Basher ein weiterer Beleg dafür, dass sich eine neue Weltordnung anbahnt. Xi hat zweifellos ein Interesse daran, den Westen und primär die USA zu schwächen, weshalb er Russland mit der Lieferung kriegswichtiger Güter unterstützt.
Doch selbst für den Machthaber in Peking gibt es Grenzen. «Die Chinesen liefern Russland zwar alles Mögliche, aber keine Kriegswaffen. Sie wissen, dass sie in diesem Fall Europa verlieren würden. Das wollen sie vermeiden, es ist nicht in ihrem Sinn», sagte die China-Expertin Abigaël Vasselier vom Berliner Mercator-Institut im Interview mit watson.
Die Chinesen fürchten die Bildung eines «Blocks» von Europa über Nordamerika bis in den asiatisch-pazifischen Raum. Sollte Joe Biden wiedergewählt werden und Wladimir Putin die Ukraine «plattmachen», könnte ein solches Szenario in greifbare Nähe rücken. Das zeigt, dass man in Xi Jinpings China einen gewissen Respekt vor der wirtschaftlichen und militärischen Stärke des Westens hat.
In Xis und Putins Rhetorik hingegen wird er gerne als schwach und dekadent verspottet. Mit etwas bösem Willen könnte man die Probleme der Ukraine darauf zurückführen, dass sie sich zu sehr dem westlichen Modell verschrieben hat. Das lässt sich im Fall von Israel noch stärker behaupten, denn eigentlich wird der jüdische Staat seit seiner Gründung permanent bedroht.
In den Monaten vor dem Hamas-Angriff aber befand sich Israel in einem Zustand innerer Zerrüttung. Schuld daran war Regierungschef Benjamin Netanjahu, dem es immer nur um sich selbst ging. Auch jetzt hat er keine Vision für einen tragfähigen Frieden. Man hat den Eindruck, er wolle für den Machterhalt den Gaza-Krieg endlos fortführen.
Damit befeuert er die Proteste, die von amerikanischen Hochschulen nach Europa und in die Schweiz übergeschwappt sind. Für gewisse Kassandrarufer sind sie ein Indiz für die «Selbstzersetzung» des Westens. Es stimmt, die Gaza-Proteste an den Unis sind unsäglich einseitig und einfältig. Die antisemitischen Untertöne sind nicht zu überhören.
Wer sie jedoch als «Jugendbewegung» bezeichnet, macht sich komplett lächerlich. Selbst der «Tagesanzeiger», der reisserisch von einer «Kampfzone Campus» schrieb, musste einräumen, dass es «keine Massenbewegung» sei. Die Protestierenden mögen lautstark sein, doch es sind nur ein paar Dutzend oder Hundert, und das bei mehreren Tausend Studierenden.
Vergleiche mit früheren Bewegungen sind abwegig. Bei der 68er-Revolte handelte es sich um einen Clash der Generationen. «Unter den Talaren – Muff von 1000 Jahren», lautete eine Parole. Und bei den Protesten gegen den Vietnamkrieg ging es für viele in den USA buchstäblich ums Überleben. Heute zelebrieren einige Wohlstandskids ihr simples Weltbild.
Das wird jene Stimmen nicht beruhigen, die sich über den «Wokeismus» in den westlichen Gesellschaften echauffieren und sich gewollt oder ungewollt zu Komplizen von Putins und Xis Dekadenzthese machen. Wie aber erklären sie sich die vielen Sympathiestimmen für Israel am Eurovision Song Contest, einem Hochamt von Non-binären und anderen «Woken»?
Die Kulturpessimisten neigen dazu, die Widerstandsfähigkeit einer Gesellschaft zu unterschätzen, auch gegenüber Islamisten. Doch sie finden andere Betätigungsfelder. So konstatierte die «NZZ am Sonntag» ein «Ende der Leistungsgesellschaft». Schweizerinnen und Schweizer arbeiten demnach immer weniger und geniessen «das süsse Wenigtun».
Allerdings warnte schon Bundeskanzler Helmut Kohl vor 30 Jahren, Deutschland sei auf dem Weg zu einem «kollektiven Freizeitpark». Es mag zutreffen, dass immer mehr Menschen Teilzeit arbeiten oder in Frühpension gehen. Doch mit dem Wohlstand wachsen die Ansprüche, zum Beispiel bei der Work-Life-Balance. Es ist beinahe ein Naturgesetz.
Nichts ist so einfach, wie es auf den ersten Blick aussieht. Es ist sicher richtig, dass vor allem Deutschland wirtschaftlich schwächelt und Warnungen vor einem «Disneyland» Europa wieder Konjunktur haben. Es kann sein, dass die Rechtspopulisten davon ebenso profitieren wie von der unsicheren Weltlage, zum Beispiel bei der Europawahl im Juni.
Doch auch in diesem Fall ist das Bild vielfältig. Giorgia Meloni regiert in Italien schon heute, gibt sich aber europäisch und transatlantisch. Marine Le Pens Weg zur Macht in Frankreich ist womöglich weiter, als man meinen könnte. Gleiches gilt für Trump in den USA. Und die AfD tut alles, um die anderen Parteien davon abzuhalten, mit ihr zu regieren.
Es ist gerade einfach, auf den Westen einzuprügeln. Aber selbst glühende Putin-Anhimmler wollen nicht nach Moskau emigrieren, während viele junge Russen schon lange vor dem Ukraine-Krieg in den Westen ausgewandert sind. An der Südgrenze der USA tauchen immer mehr chinesische Migranten auf. Überhaupt verlaufen die Migrationsströme sehr einseitig.
Irgendwie stimmt es halt schon. Das westliche Modell ist frei nach Winston Churchill das schlechteste, das man derzeit auf Erden finden kann – mit Ausnahme von allen anderen.
Ist man beim Erreichen von angestrebten Zielen am Ende?
Es wurde schon viel - längst nicht alles - erreicht.
Entschleunigen und Haltmachen sind aber Vorausetzung um ein Ziel zu erreichen: Wer immer nur beschleunigt, schiesst am Ziel vorbei.
Das gelegte gesellschaftliche Fundament im Westen ist so schlecht nicht - am Überbau wird und darf ständig (um)gebaut werden.
Die meisten Menschen in nicht-westlichen Ländern würden - als Ausgangslage - für sich wohl sehr gerne jederzeit mit „dem Westen“ tauschen, diesen jedoch evt. auch andersartig weitergestalten.