Volkskrankheit Burnout. Jede sechste erwachsene Person in der Schweiz hat bereits eines erleben müssen. Über 30 Prozent der erwerbstätigen Personen fühlen sich emotional erschöpft. Dies laut dem Job-Stress-Index der Stiftung Gesundheitsförderung Schweiz, der Universität Bern und der Zürcher Hochschule für angewandte Wissenschaften.
Doch wie kann man verhindern, dass es so weit kommt? Wie kann man den sich langsam anschleichenden Crash frühzeitig erkennen? Und welche Massnahmen dagegen gibt es?
Die Antworten darauf kennt Daniel Magro. Der ehemalige Abteilungsleiter im Bankenwesen hat Stress und Überarbeitung am eigenen Leib erlebt. Nach verschiedenen Weiterbildungen und einem Studium in angewandter Psychologie berät er heute Firmen und Führungskräfte bezüglich Stressmanagement.
Herr Magro, man hört die Behauptung immer wieder: Stress gibt es nicht, Stress macht man sich selbst. Was halten Sie davon?
Daniel Magro: Die Aussage ist stark vereinfachend und suggeriert, dass Stress ein rein mentales Problem ist – und im Prinzip einfach «weggedacht» werden kann. Das ist aber nicht so.
Apropos vereinfachend: Sie haben mir im Vorfeld ja einige Fragen zugeschickt, die wir besprechen wollen ... Ich werde in diesem Rahmen hier auch sehr stark vereinfachen müssen. Die eigentlichen Antworten würden Bücher füllen.
Woran scheitert es, dass man Stress nicht einfach wegdenken kann?
An ganz Vielem. Da wären zum Beispiel die inneren Antriebe, die eigenen Glaubenssätze. Sie werden bereits in jüngster Kindheit durch den Umgang mit Bezugspersonen eingeimpft, durch Erfahrungen, Beziehungen, Erfolg und Misserfolg. Sie sind wie eine Art Programmierung und bei jedem Menschen individuell. Werden sie verletzt, kommt die Person in Stress.
Können Sie ein Beispiel geben?
Ich komme aus einer Familie, die stark durch christliche Wertvorstellungen geprägt ist: Behandle jede Person wie dich selbst. So wurde ich erzogen – mit einem sehr hohen Anteil an Nächstenliebe. Das hat sich bei mir dermassen tief eingebrannt, dass ich gestresst reagiere, wenn ich es nicht allen recht machen kann, wenn ich «Nein» sagen muss.
Ein anderes beliebtes Beispiel sind die Perfektionisten. Ich habe schon mit Leuten gearbeitet, die mehrere Tage an einem Sitzungsprotokoll gearbeitet haben, das später niemand mehr las. Einfach nur, weil sie sichergehen wollten, dass jedes Plusquamperfekt, jedes Komma stimmte. Die Programmierung der Perfektionisten wird verletzt, wenn sie befürchten müssen, Fehler zu begehen. Etwa unter Zeitdruck.
Oh. Mit solchen Leuten arbeite ich auch zusammen.
Und haben Sie Verständnis für deren Stress?
Da verweigere ich lieber die Aussage.
Wir Menschen haben die Tendenz, die eigenen Massstäbe als allgemeingültig anzusehen. Dabei geht vergessen, dass aufgrund der individuellen Programmierung eine Sache für Person A ein Spaziergang durch den Park, für Person B aber höchst belastend ist. Die Unterschiede sind so gross, dass es oftmals an Verständnis fehlt. Gerade im Kontext eines fordernden Arbeitsumfeldes macht es das natürlich schwierig.
Tun wir etwas fürs Verständnis: Woran erkenne ich denn, ob ein Kollege gestresst ist?
Da gibt es sehr subtile Anzeichen: Wenn sich zum Beispiel der Wortschatz einer Person ändert. Gestresste Menschen tendieren dazu, andere zu beschuldigen, statt selbst Verantwortung zu übernehmen. Gestresste Menschen vertreten ihre eigenen Positionen oftmals noch unnachgiebiger, statt zu reflektieren. Manipulative Menschen sind oftmals gestresst, Menschen, die in die Opferrolle fallen. Dass man solche Dinge bemerkt, bedingt allerdings, dass man seine Kollegen und Mitarbeiter nicht nur oberflächlich kennt.
Und wie bemerke ich es bei mir selbst?
Durch Selbstreflexion. Deshalb sind Achtsamkeitstechniken auch so wichtig im Zusammenhang mit Stress. Durch Meditation, Entspannungsübungen, autogenes Training – was auch immer – lernt man sich selbst besser kennen und verstehen. So gut, dass man bemerkt, wenn man zu sehr gestresst ist. Das braucht aber etwas Übung.
Aber es gibt ja auch körperliche Signale
Richtig. Grundsätzlich sendet der Körper sämtliche Signale, die Stress signalisieren: erhöhter Puls, die Verlagerung der Atmung vom Bauch in den Brustkorb, feuchte Hände, verspannte Muskulatur. Man muss diese Zeichen aber erst mal erkennen – und dann auch noch richtig deuten.
Aber so bisschen Anspannung gehört ja auch dazu.
Absolut. Unser Körper ist sogar darauf ausgerichtet, dass wir das Konto kurzfristig überziehen. Das erlaubt uns, vor einem Abgabetermin zwei, drei Tage Vollgas zu geben. Das Problem in unserer Hochleistungsgesellschaft ist, dass wir uns nach einem solchen Effort keine Verschnaufpause mehr gönnen, dass wir, wenn wir unser Konto überzogen haben, nicht wieder einzahlen. Uns fehlen die echten Pausen.
Welche Symptome zeigen sich, wenn ich mein Konto zu lange überziehe?
Spannungskopfschmerzen, Rücken- oder Schulterschmerzen, verstärkter Tinnitus, Augenlid-Zucken, Probleme mit der Verdauung. Der Körper sagt uns eigentlich sehr deutlich, dass wir kürzertreten sollten. Aber wir sind Meister darin, die Warnsignale zu ignorieren.
Warum?
Das hat natürlich sehr unterschiedliche Gründe. Oft sind Leute betroffen, deren Programmierung darauf ausgerichtet ist, dass sie leisten wollen, sich durchbeissen, stark sein wollen. Das sind Leute mit sehr hohem Arbeitsethos und einer ausgeprägten Erwartung an sich selbst. Das sind eigentlich ja positive Eigenschaften, die mitgeholfen haben, dass ein Mensch dort steht, wo er steht. Dass er erfolgreich ist, einen Status hat. Entsprechend schwierig ist es, diese Werte plötzlich abzustreifen. Hat sich ein Mensch mit dieser Prägung bereits tief in ein Stressmuster gearbeitet, wird es ohne professionelle Hilfe schwierig werden, sich daraus zu befreien.
Und dann schiebt man halt die Symptome auf den Bürostuhl, kauft sich ein Sitzkissen oder geht zur Massage, statt sich dem Kernproblem zu stellen – was aber eben auch verdammt schwierig ist.
Wie kann ich den eigenen Arbeitsethos, den eigenen Stolz, trotzdem besiegen?
Wenn es einen einfachen Trick gäbe, wären nicht so viele Menschen betroffen – und ohne fremde Hilfe schaffen das wirklich nur sehr wenige. Kommt hinzu, dass im Stress der Körper Adrenalin und Kortisol produziert. Die beiden Hormone haben in Kombination eine schmerzlindernde Wirkung. Das sorgt zusätzlich dafür, dass die Warnsignale, welche der Körper aussendet, nicht mehr korrekt wahrgenommen werden.
Ich konstatiere: Sich selbst eine Überbelastung zuzugestehen, ist schwierig. Trotzdem wäre es schön, wenn wir unseren Lesern einen Tipp mitgeben könnten.
So einen Tipp gibt es schon.
Schiessen Sie los!
Es gibt eine Faustregel: die Viermal-Drei-Regel.
Was besagt sie?
Wer während vier Wochen mindestens dreimal pro Woche am selben Symptom leidet, sollte sich Zeit nehmen, um in sich zu gehen. Sich in Ruhe, ohne Ablenkung, ohne Smartphone, vielleicht bei einem Spaziergang fragen, ob man aktuell zu viel Gas gibt.
Nur um noch einmal zu rekapitulieren: Wir reden von Kopfschmerzen, Schulter- und Rückenschmerzen, Tinnitus, Augenlidflattern, einer gestörten Verdauung ...
Weil die beiden Nervenstränge entlang der Wirbelsäule verlaufen, sind Nacken- und Schulterverspannungen in vielen Fällen Erstsignale. Perfiderweise sind es dieselben Beschwerden, die auch unser andauerndes Sitzen auslösen kann. Deshalb werden sie oft nicht als Stressindikatoren erkannt.
Stresssymptome können aber die unterschiedlichsten Formen annehmen: Es kann zu Schlafstörungen kommen, plötzlichem Zähneknirschen in der Nacht, verstärkten Hautproblemen – wenn bereits eine medizinische Ursache vorliegt – oder zu Veränderungen im Menstruations-Zyklus.
Ich möchte aber in aller Deutlichkeit betonen: Alle diese Symptome müssen nicht stressbedingt sein. Wichtig ist, zu reflektieren, ob man sich aktuell etwas gar viel zumutet. Die Frage ist, ob man sich das «Ja» dann auch zugesteht.
Wenn die Antwort «Nein» lautet?
Bei einem ehrlichen «Nein» empfehle ich, eine Ärztin aufzusuchen. Dann könnte auch ein medizinisches Problem vorliegen.
Bei einem «Ja»?
Bei einem «Ja» empfiehlt es sich, stresslindernde Massnahmen zu ergreifen.
Welche stresslindernden Massnahmen empfehlen Sie?
Primär einmal genügend Schlaf. Während wir schlafen, ereignen sich viele Reinigungs- und Erhohlungsprozesse. Das wäre ja eigentlich bekannt. Trotzdem schlafen viele Menschen chronisch zu wenig und/oder gehen zu spät ins Bett. Eine sehr wichtige Schlafphase findet vor Mitternacht zwischen 22.00 Uhr und 24.00 Uhr statt. Wer regelmässig später ins Bett geht, beraubt sich dieser. Das kann längerfristig Auswirkungen haben – zum Beispiel aufs Gedächtnis. Es gibt aber noch ein weiteres Problem: Wer glaubt, er könne sich nach einem pausenlosen 13- oder 14-Stünder einfach so ins Bett legen und dann schlafen wie ein Baby, der irrt sich.
Aber dann ist man doch todmüde?
Aber nicht gut vorbereitet für den Schlaf. Wenn Sie ohne Unterbruch mit dem Auto von Zürich nach Genf fahren, dann werden Sie mit einem heissen Motor ankommen. Nach einem Vollgastag überhitzt auch der Mensch – und der Motor muss zuerst abgekühlt werden. Hier macht es Sinn, die biologischen Abläufe etwas detaillierter zu erklären:
Für einen guten Schlaf sorgt das Hormon Melatonin, welches bei Einbruch der Nacht gebildet wird. Deshalb lohnt es sich, früh zu Bett zu gehen. Melatonin basiert unter anderem auf dem Hormon Serotonin, das wir wiederum nur bei genügend Erholungsphasen bilden. Kommen diese Phasen zu kurz, sinkt der Serotonin-Pegel. Dadurch wird weniger Melatonin produziert, und der Schlaf wird schlechter. Deshalb stimmt es eben schon, wenn man sagt: Die Nacht ist immer ein Spiegel des Tages.
Es lohnt sich also, sich bereits während des Tages auf den Schlaf vorbereiten. Und zwar mit Erholungsphasen?
Richtig. Und das Schöne ist, dass man sich dafür nicht zwei Stunden lang im Schneidersitz unter eine Eiche setzen muss. Mehrere kleine Mikropausen in den Alltag einbauen, ist bereits Gold wert. Ein Beispiel: Ich habe mir angewöhnt, wenn ich einen Kaffee hole oder Wasser, oder wenn ich nach einem Meeting an den Arbeitsplatz zurückkehre, drei Minuten aus dem Fenster zu sehen. Dabei atme ich einfach nur tief ein und aus. So gönne ich meinem Körper und dem Gehirn eine Erholungsphase vom Hamsterrad. Und rege damit die Serotonin-Produktion an.
Gibt es weitere Massnahmen, um die Schlafqualität zu verbessern?
Bewegung. Und ich meine damit nicht Sport, sondern einfach nur Alltagsbewegung. Die Evolution hat uns noch nicht mit einem System ausgestattet, das wir bräuchten, um achteinhalb Stunden pro Tag herumzusitzen, nur um danach vor einem Fernseher oder einem Smartphone zu verbringen – oder intensiv Sport zu treiben. Uns fehlt Alltagsbewegung – die Bewegung, die wir früher hatten, als wir von einem Jagdgebiet ins andere übersiedelten. Das können ausgedehnte Spaziergänge sein, ohne Ablenkung, ohne Smartphone. Neben anderen Vorteilen, der Stabilisierung des Blutzuckerspiegels, der Verbrennung von Fett, ermöglicht diese Form von Bewegung Körper und Geist sehr viel Erholung. Und es wird dabei Serotonin produziert.
Viele, vor allem gestresste Menschen, werden nun monieren, dass ein ausgedehnter Spaziergang pro Tag nicht drin liegt.
Es reichen auch 30 Minuten. Aber dazu eine kleine Story: Vor ein paar Tagen hatte ich ein Seminar mit 103 Teilnehmern. Auch dort lautete der Tenor: keine Zeit für einen halbstündigen Spaziergang. Wir haben dann die Bildschirmzeit am Smartphone dieser Leute ausgewertet ...
Wie viel war es?
6,5 Stunden.
Im Durchschnitt.
Aber ein Spaziergang von 30 Minuten kommt nicht infrage?
Das ist aber auch extrem!
Einige der Leute gaben an, nach dem Aufstehen als Erstes gleich Instagram zu checken. Andere pfeifen sich zum Mittagessen ein Sandwich rein, und glotzen dabei aufs Handy. Oder dann wird am Abend, während eine Serie läuft, noch gleichzeitig über WhatsApp gechattet.
Unser Hirn dreht dabei im roten Bereich.
Also propagieren Sie auch weniger Smartphonekonsum?
Statt eine halbe Stunde spazieren zu gehen, versenken wir uns ins Instagram oder andere Social-Media-Plattformen. Deren Aufbau – notabene oftmals von Hirnspezialisten entwickelt – ist darauf ausgerichtet, uns möglichst lange zu fesseln.
Wenn wir von einer Zunahme der psychischen Krankheiten in den vergangenen Jahren sprechen, dann müssen wir auch das Bewegungsverhalten der Menschen untersuchen. Gehen die Leute, die Kinder, die Jugendlichen, noch genügend an die frische Luft? Haben sie noch ausreichend Sonnenlicht – und Bewegung? Haben die Kinder – und auch die Erwachsenen – heute noch genügend Langeweile?
Kaum ist mal nichts los, zücken die Menschen das Smartphone. Heute im Zug hierhin sah ich keine einzige Person, die nicht in einen Bildschirm glotzte. Wir gönnen uns viel zu wenige Momente, in denen wir uns nicht irgendwelchen Reizen ausliefern. Wann stelle ich mir Fragen zum Leben? Wann frage ich mich, wer ich bin, wohin ich will, wie ich dahin komme? Sicher nicht, wenn ich durch Instagram scrolle. Sondern in einem Moment der Ruhe, zum Beispiel auf einem Spaziergang durch den Wald.
Wie oft am Tag kontrollieren Sie, ob Sie noch genügend Akku für Ihr Smartphone haben? Ein leerer Smartphoneakku ist ein Weltuntergang. Aber dem eigenen Akku wird keine Beachtung geschenkt.
Das wäre jetzt eigentlich ein gutes Schlusswort gewesen. Aber ich möchte noch einen anderen Bereich besprechen, der für viele Menschen stressig ist: ein schlechtes Klima am Arbeitsplatz.
Auch hier gilt: Wenn sie den Tag mit mehr Ressourcen beginnen, dann wird es ihnen besser gelingen, diese Art von Belastung zu bewältigen. Langfristig aber ist das natürlich keine Lösung.
Welches ist die langfristige Lösung?
Um eine langfristige Lösung zu finden, muss man sich die Frage stellen, ob man eine Situation ändern kann, wenn ja, wie, und wenn nicht, ob man sie erdulden kann und dazu auch bereit ist.
Und dann gibt es noch den steinigen, dafür sehr nachhaltigen Weg: den Umgang mit schwierigen Situationen erlernen.
Ich nehme an, Sie sprechen von Resilienz, der Fähigkeit, auf Herausforderungen zu reagieren?
Genau. Das Erlernen von Resilienz ist mit sehr viel Arbeit, Arbeit an sich selbst, verbunden. Aber es lohnt sich. Es ist ein bisschen so, wie wenn man sich mit der Machete einen Weg durch den Dschungel pflügen muss. Beim ersten Mal ist es mühsam und der Energieaufwand ist enorm. Beim zweiten Mal aber ist die grösste Arbeit bereits getan, und man benötigt die Machete nur noch bei jedem dritten Schritt. So wird es von Mal zu Mal einfacher. Irgendwann entsteht ein veritabler Weg: Der Umgang mit der stressigen Situation ist erlernt.
Was ist, wenn es im Kern harzt? Wenn gemobbt wird in einer Bude, die Stimmung mies ist, Entlassungen drohen oder das Marktumfeld schwierig ist? Wie geht man mit solchen Stresssituationen um?
Die Frage lässt sich nicht so einfach beantworten. Nehmen wir das Beispiel Mobbing – nur schon das Wort löst Prozesse mit sehr hoher Eigendynamik aus. Mobbing ist ein dermassen einschneidendes Erlebnis, dass ich bezweifle, dass es Personen gibt, welche das am Abend im Schneidersitz wegmeditieren können. Gewisse Personen werden einer solchen Extremsituation länger standhalten können, aber ich behaupte, dass die Mehrheit keine veritablen Instrumente zur Verfügung hat, um so etwas über einen längeren Zeitraum zu erdulden. Solche Situationen müssen gelöst werden.
Nehmen wir ein weniger extremes Beispiel: Das Marktumfeld ist schwierig. Die Stimmung im Büro deswegen gereizt.
Hier spielt auch die Resilienz eine Rolle. Wenn wir schlechte Nachrichten erhalten, beginnt das Kopfkino: «Was wäre wenn?» Das kann zu Existenzängsten führen, zu Statusverlustängsten, das Selbstwertgefühl wird torpediert. Welche Umstände was auslösen, ist individuell: Hier sind wir wieder bei der persönlichen Programmierung.
Auch die Zeit, wie lange es dauert, bis eine Situation tatsächlich akzeptiert wird, ist individuell. Zu Beginn stecken viele Leute den Kopf in den Sand. Irgendwann kommt der Punkt, an dem man intellektuell verstanden hat, wie's steht. Damit ist die rationale Akzeptanz vorhanden, meist aber noch nicht die emotionale. In der Zeit nimmt man die Opferrolle ein, beklagt sich bei Kollegen, erhält tröstende Schulterklopfer, die in dem Moment auch sehr wichtig sind – aber noch nicht zielführend.
Irgendwann kommt der Zeitpunkt, an dem man die Opferrolle ablegen sollte. Das kann man aber erst, wenn man eine Situation auch emotional akzeptiert hat. Und dabei helfen Entspannungsübungen enorm. Erneut ist das Serotonin ein wichtiges Fundament für Lösungen. Sobald es darum geht, Lösungen zu formulieren, egal für welche Probleme, sei das eine Entlassungswelle, Kostendruck, schwierige familiäre Probleme – mit genügend Entspannung findet man einfacher Lösungen. Zentral sind dabei auch gewisse Grundannahmen.
Welche sind das?
Wir beraten viele Unternehmen genau zu diesem Thema. Und unsere Erfahrung ist, dass niemand am Morgen aufsteht und sich vornimmt, sich wie ein Arschloch zu benehmen. Ja, Menschen bringen ihren Rucksack mit. Hinzu kommt der Druck der Vorgesetzten, der GL, der Umsatzziele usw. Aber die Einstellung, dass Veränderungen nicht aufgrund von Boshaftigkeit entstehen, sondern eher aufgrund des Gegenteils, aus dem Glauben heraus, Dinge verbessern zu wollen, hilft. Die Vorgesetzten denken sich in der Regel schon etwas dabei, wenn sie Massnahmen einführen. Vielleicht setzen sie dabei aber auf falsche oder inkomplette Informationen, müssen etwas umsetzen, hinter dem sie gar nicht stehen können. Boshaftigkeit ist es aber selten. Daran sollte man sich stets erinnern.
Ausserdem – auch davon haben wir bereits gesprochen – verfügen wir über sehr unterschiedliche Filter. Die Menschen schliessen aber aufgrund ihrer eigenen Filter auf die der anderen. Dabei ist jede Person individuell – hier hilft der Dialog ...
Der dann im Normalfall in einem Ballwechsel an Vorwürfen endet ...
Dialoge finden oftmals anklagend statt. Das stimmt. Für einen konstruktiven Dialog braucht es eine gewisse Coolness, eine gewisse Souveränität – und damit Ressourcen, über die man nur ausgeruht verfügt.
Ein anderer Normalfall: Die Leute beginnen einfach zu lästern.
Mit dem Lästern ist es wie bei so Vielem, eine Frage des Masses. Das Problem dabei ist, dass es sich um eine negative Befriedigung eines Bedürfnisses handelt. Diese Befriedigung wirkt nur kurzfristig – und das Problem wird dadurch nicht gelöst. Damit steigt die Wahrscheinlichkeit, dass man wieder lästern muss, damit es erneut besser geht. Und irgendwann entsteht ein Teufelskreis, sodass Lästern in Manipulation übergeht.
Schöner – besser – wärs, sich mit dieser Person zusammenzusetzen und aus einer möglichst wohlwollenden Perspektive zu besprechen, wo der Schuh drückt. Auch hier kann man davon ausgehen: Die Person möchte mir nicht persönlich schaden. Die Person überlegt sich etwas bei ihren Handlungen. Die Person kennt meinen persönlichen Rucksack nicht.
Aber: Wir sind Menschen. Wir müssen nicht jeden Konflikt lösen. Wenns fürs daily business keinen Einfluss hat, dann kann man auch mal einfach sagen «fuck it». Sobald es das daily business aber betrifft, muss man sich bewusst sein: In einem Geschäft bestehen Beziehungen – und die müssen gepflegt werden.
Das ist in meinen Augen aber schon sehr viel verlangt.
Ja, das ist es. Deshalb kann man die Bedeutung von Entspannung nicht genug hoch einschätzen. Gestresst wird man kaum die Souveränität für solche Gespräche aufbringen können. Die andere Frage lautet: «Will ich das Problem überhaupt wirklich lösen? Ist es mir wirklich wichtig? Ist der Job so super? Und das Team?»
Wenn du erkennst, dass störende Dinge nicht erfunden wurden, um dich zu stressen, sondern um damit Probleme zu lösen, dann wirst du auch bereit sein, konstruktive Lösungsvorschläge zu finden.
Herr Magro. Vielen herzlichen Dank, dass Sie sich Zeit genommen haben für dieses ausführliche Interview.
Natürlich wollte ich später wissen, wie hoch meine persönliche Smartphone-Screenzeit ist: 2 Stunden und 42 Minuten pro Tag im Schnitt. Bei Android-Geräten findest du diese Informationen unter: Einstellungen – Digital Balance.
Spazierschuhe findest du im Fachhandel.
Immer mal wieder eine 3-minütige Verschnaufpause gibt's hingegen gratis.
Ich gebe gerne Vollgas auf der Arbeit, und temporärer Stress geniesse ich sogar, weil es zu Höchstleistungen antreibt.
Dafür mache ich dann beispielsweise an einem Wochenende nur das Minimum, und versuche allgemein, meine freie Zeit nicht mit Terminen zu überladen.
Was auch enorm hilft: ein gutes Arbeitsklima. Selbst in stressigsten Situationen einen Kaffee zu trinken oder dumm zu quatschen, kann die Energiereserven unglaublich gut auffüllen.
Ein toxisches Arbeitsumfeld erkennt man daran, dass es solche ausserordentlichen Leistungen kaum oder falsch würdigt und im Gegenzug dann noch als neuen Leistungsstandard erwartet.