«Es ist Zeit, ein neues Kapitel aufzuschlagen. Stolz kann ich sagen, dass ich alles erreicht habe, wovon ich je geträumt habe», sagt Daniela Ryf, als sie ihren Rücktritt auf Ende Jahr ankündigt. Zwei Jahrzehnte Ausdauersport haben Spuren hinterlassen, die Verletzungen haben sich zuletzt gehäuft. Derzeit muss Ryf wegen einer Verletzung am Steissbein pausieren. «Dafür habe ich endlich Zeit, meinen Garten zu pflegen», sagt Ryf mit einem Lächeln. Und Zeit, um in ihrer Heimat Solothurn über ihre Karriere zu sprechen und darüber, wie es war, sich erstmals in eine Frau zu verlieben.
Anfangs März gaben Sie Ihren Rücktritt per Ende Jahr bekannt. Warum haben Sie genug vom Spitzensport?
Den Entscheid habe ich nicht einfach von heute auf morgen gefällt. Es war ein langer Prozess. Ins Rollen gekommen sind die Gedanken nach meinem Weltrekord beim Ironman in Roth im letzten Juni. Danach merkte ich: «Okay, jetzt habe ich wirklich kein Ziel mehr.» Ab diesem Moment hätte ich abtreten und sagen können: Das war's.
Was hat Sie dazu bewogen, doch weiterzumachen?
Wenn man immer die gleichen Routen läuft und fährt, ist das irgendwann ermüdend. Dazu weiss ich, wie schnell ich früher war, und das ist eine tägliche Erinnerung «You suck» (lacht). Inzwischen trainiere ich öfter in Zürich, wo meine Freundin wohnt. Das hat enorm geholfen, noch einmal neue Motivation zu schöpfen.
In den letzten Jahren hatten Sie häufiger Probleme mit Krankheiten und Verletzungen. Inwiefern hatte der Körper Einfluss auf Ihren Entschluss?
Ich merkte schon, dass mein Körper diese Belastungen nicht mehr so aushalten kann wie früher. Und auch, dass ich die Erwartungen an mich selbst zunehmend nicht mehr erfüllen kann. Ich habe im Training viele negative Gefühle, weil meine Leistungen nicht mehr dort sind, wo sie einmal waren. In den letzten fünf Jahren war es schwierig, nochmals besser zu werden. Das hat mental einiges ausgelöst. Nach dem Weltrekord erkrankte ich an Corona. Da realisierte ich erneut, dass es harziger geworden ist, wieder fit zu werden. Das löste auch mal Frust aus.
War es eine Befreiung für Sie, den Rücktritt anzukündigen?
Ich war unsicher, wann ich ihn kommunizieren soll. Am liebsten hätte ich einfach nach dem letzten Rennen gesagt: «I'm out. Vorbei.» Aber irgendwie möchte ich mein Ende noch ein bisschen zelebrieren, ich schulde das unserem Sport und den vielen Fans auf gewisse Weise auch. Dann können sie sich noch verabschieden. In den ersten Rennen dieser Saison sind dann tatsächlich jeweils auch viele Fans zu mir gekommen. Ich habe das sehr genossen, musste aber auch aufpassen, um zu vermeiden, wieder in meinen Tunnel, in die «Angry Zone» zu kommen.
Ertappen Sie sich denn jetzt schon dabei, auf die eigene Karriere zurückzublicken – obwohl sie erst Ende Jahr endet?
Nein, ich selbst mache das nicht. Ich denke ungern zurück, ich bin viel lieber im Moment. Aber ich habe auch nicht das Gefühl, ich müsse unbedingt noch einen elften Weltmeistertitel erringen. Die Zahl 10 ist für mich perfekt. Gleichzeitig habe ich mich entschieden, diese eine Saison noch zu machen – und dann möchte ich sie auch seriös machen. Also möchte ich bei der Ironman-WM in Nizza auch um den Titel mitkämpfen können. Einfach nur mitmachen bereitet mir keinen Spass. Ich muss hingegen manchmal aufpassen, nicht schon zu sehr vorauszudenken, denn ich freue mich natürlich auf das neue Jahr. Drei harte Trainings pro Tag werde ich jedenfalls nicht vermissen (lacht).
Wie wird denn Ihr neues Leben aussehen?
Ich habe viele Ideen. Ich spreche auch jetzt schon aktiv mit Partnern oder Sponsoren über mögliche Projekte nach der Karriere. Mit einigen werde ich auch weiterarbeiten können. Hinzu kommen Events für meine Foundation. Ganz generell ist mein Ziel schon, Leute zur Bewegung zu inspirieren.
Sie klingen, als wären Sie schon Botschafterin einer Krankenkasse …
… (lacht) aus dieser Ecke hatte ich bisher keine Anfrage. Ich glaube, ich habe viele Möglichkeiten. Ich werde eher aufpassen müssen, dass ich mir nicht zu viel vornehme. Und ich möchte mir genug Zeit nehmen, um herauszufinden, was mir wirklich passt. Das kann durchaus zu einem Teil Arbeit in einem Office sein.
Wie sehr hilft es, dass Sie beim Übergang ins neue Leben nicht direkt auf Geld angewiesen sind?
Dafür bin ich sicherlich sehr dankbar. Wobei ich schon den Anspruch habe, weiterhin Geld zu verdienen. Ich finde das auch – wie soll ich sagen – ich sehe es als Challenge, Geld zu verdienen. Das motiviert mich. Ich überlege mir, wie ich für mich und meine Partner Wert generieren kann. Ich glaube, ich werde mich da nochmals anders ausleben können, als ich es bis jetzt konnte, weil die Priorität stets auf der Performance lag. Ich bin jedenfalls in einem Alter, in dem ich mir eine zweite Karriere im Job aufbauen kann. Darauf habe ich grosse Lust. Ich möchte jetzt nicht 40 Jahre einfach nur an der Sonne liegen.
Mit dem Sport fällt auch ein Teil Ihrer Identität weg. Bereitet Ihnen das auch Angst?
Nein. Ich hatte wirklich das Glück, dass ich mich nie durch meinen Sport identifiziert habe. Fast alle meine Freunde treiben keinen Sport. Zu meiner Solothurner Clique aus Schulzeiten habe ich stets einen guten Draht beibehalten. Ich glaube auch nicht, dass mir langweilig wird. Und wenn, dann suche ich eben ein neues Hobby. Es gibt noch vieles zu entdecken - Spiele beispielsweise! Da habe ich letzte Woche gleich wieder neue gelernt.
Nämlich?
Scrabble, aber das ist sehr anstrengend (lacht). Und ich finde Pokern recht lustig. Wobei ich ja auch künftig etwa eine halbe Stunde pro Tag reservieren möchte, um Sport zu treiben.
Zumal es gut möglich ist, dass Ihr Körper nicht gleich von 100 auf 0 schalten kann. Haben Sie das Gefühl, dass er sogar gewisse Sucht-Signale aussendet?
Ich fühle mich nicht süchtig nach Sport. Klar ist aber, dass ich mich auch künftig wohlfühlen möchte in meinem Körper. Und auf das Gefühl nach dem Sporttreiben in vernünftigem Mass – also bis zu einer Stunde – möchte ich auch nicht verzichten. Das erzeugt eine schöne Müdigkeit. Alles darüber hinaus macht einen müde, ja sogar asozial, weil man nichts mehr mag. Diese extreme Müdigkeit werde ich nicht vermissen. Ich freue mich auch darauf, einmal Sport in einer Gruppe zu treiben, ein Bootcamp zum Beispiel oder eine gemeinsame Velo-Ausfahrt.
Welchen Tipp würden Sie aus heutiger Sicht der achtzehnjährigen Daniela Ryf geben?
Ich glaube, ich würde alles noch einmal genau gleich machen.
Ausnahmslos?
Ja. Ich könnte jetzt zwar sagen: Nimm nicht alles so ernst. Aber ich glaube, dann wäre ich nicht so gut geworden. Was nicht heisst, dass ich keine Fehler gemacht hätte.
Zum Beispiel?
Ich musste lernen, die Dinge selbst in die Hand zu nehmen. Dass ich nicht mein gesamtes Management einer einzigen Person überlasse und mich in eine Abhängigkeit begebe. Ich habe das gedreht und verschiedene Leute angestellt, die für mich arbeiten. Aber ich bin die Chefin und halte alles zusammen.
Das bedeutet, dass von Ihrem Rücktritt nicht nur Sie persönlich, sondern auch ihr Umfeld betroffen ist. Wie haben sie auf diese Entscheidung darauf reagiert?
Unterschiedlich. Mein Trainer meinte auch, es sei die richtige Entscheidung. Mein Körper ist nicht mehr der, der er einmal war. Grundsätzlich haben sich alle sehr für mich gefreut. Dass ich es vielleicht auch mal etwas mehr geniessen kann. Meine Kollegin Mädi, die bei den Rennen immer dabei war, wird es einerseits vermissen. Anderseits wird sie sich auch freuen. Wir machen dann einfach andere Partys. Vielleicht nicht unbedingt Party, Party.
Wie haben Ihre Mutter und Ihr Stiefvater reagiert?
Mein Stiefvater Urs, der mich zum Triathlon gebracht hat, war schon immer ein grosser Fan. Er ist traurig und zugleich glücklich, melancholisch würde ich sagen. Meine Mutter hat mich immer enorm unterstützt, egal, was ich wie entscheide. Sie freut sich sicher auch.
Und Ihre Freundin?
Sie hat mich ermutigt, weiterzumachen, weil sie gesehen hat, wie gerne ich es mache und weil sie gespürt hat, dass ich dieses Feuer, mich zu pushen, noch habe. Das hat sie mir aufgezeigt, und da habe ich gemerkt, wie schön es ist, so Abschied zu nehmen und nicht einfach nach dem letzten Rennen zu sagen: Das wars. Nicht wegen ihr, sondern auch dank ihr habe ich noch einmal die Motivation dafür gefunden. Mehr in Zürich zu sein, dort noch einmal das Ganze neu zu entdecken, gibt mir noch einmal einen neuen Schub.
Sie haben vor einigen Jahren gesagt, es sollte in der Gesellschaft ganz normal sein, dass man Männer und Frauen lieben kann. Welche Reaktionen hat das ausgelöst?
Nur positive, was sehr schön zu sehen ist. Ich hatte lange keine Freundin, und sie und ich werden jetzt auch keine Homestorys machen. Es ist einfach schön, können wir unser Glück in der Öffentlichkeit ausleben. Mein Eindruck ist, dass die Menschen, zumindest in meiner Welt, unsere Gefühle feiern.
Wie äussert sich das?
Wenn wir zum Beispiel Komplimente von einer Flugbegleiterin bekommen, wie herzig wir miteinander seien. Kürzlich kam ein älterer Mann zu uns und hat mich gemustert. Ich dachte, er wolle fragen, ob ich Daniela Ryf sei. Dann hat er aber gefragt, ob wir ein Liebespaar seien. Nachdem wir das bejaht hatten, sagte er: «So schön!» Das hatte ich nicht erwartet. Meine einzige Erwartung ist, dass man die Leute einfach ihr Leben leben lässt.
Hatten Sie Angst, dass es anders sein könnte?
Nein, eigentlich nicht. Dennoch ist es eine schöne Überraschung, wie positiv die Reaktionen in der Öffentlichkeit sind. Es ist schön, zu sehen, dass in den letzten fünf Jahren extrem viel passiert ist. Auch dank vielen anderen, die sich in der Öffentlichkeit exponiert haben.
Es kommt ja öfter vor, dass sich Personen, die in der Öffentlichkeit stehen, zu ihrer Homosexualität bekennen. Sie aber haben gesagt: Ich habe mich schon in Männer und Frauen verliebt. Sie haben also schon eine Vorreiterrolle.
So banal wie das klingt, aber das Outing war in meinem Fall vor allem wichtig, um zu zeigen, dass ich offen bin für Männer und Frauen. Das ist etwas, das oft Thema ist in Gesprächen mit Menschen, die mich fragen, wie sie jemanden für eine Beziehung finden können. Es ist wichtig, auszusprechen, wofür man offen ist. Wie sonst soll das mein Gegenüber wissen? Ich will mich nicht verstecken müssen. Gleichzeitig will ich es nicht an die grosse Glocke hängen. Meine Botschaft ist: Es sollte normal sein.
Haben Sie sich dazu verpflichtet gefühlt, sich in der Öffentlichkeit zu erklären?
Nein, aber ich finde, als Person, die in der Öffentlichkeit steht, muss man es auch einmal sagen. Für mich persönlich war es ein guter Moment, und ich bin extrem froh, habe ich es so gemacht. Denn ich war damals nicht in einer Beziehung, und mein Bekenntnis stand nicht im Zusammenhang mit einem anderen Menschen, sondern betraf mich alleine.
Wie wäre es gewesen, wenn Sie in einer Beziehung gewesen wären?
Meine frühere Beziehung zu einem Mann habe ich auch nicht in die Öffentlichkeit getragen. Grundsätzlich ist eine Beziehung für mich privat. Andererseits will ich mich nicht verstecken müssen, und es ist schön, wenn man sich zeigen kann. Und gerade wenn man mit einer neuen Beziehung in die Öffentlichkeit gehen muss, weil man auch einmal einen Anlass gemeinsam besuchen möchte, ist das mit Druck verbunden.
Sie haben angesprochen, wie sehr sich die Gesellschaft in den letzten fünf Jahren weiterentwickelt hat. Welchen Weg sind Sie persönlich in dieser Zeit gegangen?
Es ist sicher viel passiert. Vielleicht nehme ich die Gesellschaft als offener wahr, weil ich viel mehr zu mir selber stehen kann. Auch wenn ich das schon anders formuliert habe: Mir ist es nicht egal, was andere von mir denken. Aber ich kann unterscheiden, ob es jemand ist, der mir wichtig ist, oder ob etwas von einer Person kommt, die einfach eine Meinung zu mir hat. Dieser Prozess hat 2018 eingesetzt. Bis dahin war ich schon sehr stark in meinem Tunnel. Ich hatte schon sehr viel erreicht im Sport und dann angefangen, mehr zu experimentieren. Ich bin zuletzt viel offener geworden, kommunikativer auch. Und ich möchte jetzt auch die Menschen auf den letzten Metern meiner Karriere mehr teilhaben lassen.
Und neben dem Sport?
Es war eine Zeit, in der ich mich auch noch einmal selbst neu gefunden habe. Und ich habe mich auch zum ersten Mal in eine Frau verliebt.
Wie hat sich das für Sie angefühlt?
Es war schon ziemlich neu. Ich habe Frauen auch schon früher attraktiv gefunden. Aber ich bin dem nie nachgegangen. Man muss ja nicht auf Frauen stehen, um Frauen attraktiv zu finden. Frauen sind für mich attraktiver, ich habe das aber nie als Zeichen gedeutet.
Haben Ihnen vielleicht Vorbilder gefehlt?
Ich habe das Gefühl, dass meiner Generation vorgelebt wurde, dass Frauen eine Beziehung mit einem Mann anstreben sollen. Eine gleichgeschlechtliche Beziehung ist etwas, das ich mir gar nicht überlegt habe.
Wie nehmen Sie die jüngere Generation wahr?
Ganz anders. Meine Schwester ist sieben Jahre jünger, und ihre Freunde sind ganz anders. Sie hat auch den lustigsten Kommentar gemacht, als ich ihr erzählte, dass ich auch auf Frauen stehe. Sie sagte: «Ah, du bist also gar nicht so prüde, wie ich gedacht habe.»
Wie verwirrend war es für Sie, als Sie sich erstmals in eine Frau verliebt haben?
Es hat sich für mich sofort richtig angefühlt. Aber jene Beziehung war relativ schnell wieder zu Ende. Schwierig war es für mich, Single zu sein und Frauen kennenzulernen als jemand, der in der Öffentlichkeit steht. Weil es mir wichtig ist und war und ich bestimmen wollte, was wann öffentlich wird. Ich bestimme gerne selber über meinen Weg.
Wie sind Sie damit umgegangen?
Ich habe über Apps Frauen kennengelernt, mit denen ich mich darüber austauschen konnte, woraus dann aber eher Freundschaften entstanden sind. In meinem engen Umfeld gab es niemanden, der bisexuell ist. Dieser Austausch war sehr wertvoll für mich. Ob pansexuell, bisexuell – für mich sind diese Labels nicht so wichtig.
Wer war für Sie auf diesem Weg in Ihrem Umfeld eine wertvolle Stütze?
Obwohl klar war, dass sie das nicht werten werden und obwohl es mit meinen zwei besten Freundinnen war, haben mich die ersten Gespräche am meisten Überwindung gekostet. Es haben sich alle mega gefreut, und es ist extrem wertvoll, darüber zu reden.
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