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«Als Alexej starb, stürzte meine Welt ein»: Das war Nawalnys Beerdigung

«Als Alexej starb, stürzte meine Welt ein»: Das war Nawalnys Beerdigung

Sie rufen «Na-wal-ny» und «Nein zum Krieg»: Trotz Grossaufgebot der Polizei haben sich in Moskau Tausende Menschen versammelt, um dem in Haft ums Leben gekommenen russischen Oppositionspolitiker Alexej Nawalny ihr letztes Geleit zu geben. Es ist auch ein politischer Abschied.
01.03.2024, 23:00
Inna Hartwich, Moskau / ch media
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Relatives and friends pay their last respects at the coffin of Russian opposition leader Alexei Navalny in the Church of the Icon of the Mother of God Soothe My Sorrows, in Moscow, Russia, Friday, Mar ...
Seine engsten Verwandten erweisen ihm die letzte Ehre: Alexej Nawalny, getötet vom Putin-Regime, aufgebahrt in der Kirche der Gottesmutter-Ikone «Lindere mein Leid».Bild: keystone

Als der schwarze Leichenwagen mit dem Sarg von Alexej Nawalny die Kircheneinfahrt passiert, klatscht die Menge. «Na-wal-ny, Na-wal-ny, Na-wal-ny», rufen Tausende von Frauen und Männern, die an diesem Tag zur Kirche der Gottesmutter-Ikone «Lindere mein Leid» in den Südosten Moskaus gepilgert sind. Sie wollen sich von ihrem Idol, der symbolgewordenen Hoffnung für Veränderungen in Russland, verabschieden.

Sie sind aus Nowosibirsk hierhergefahren, aus Saratow, aus Sankt Petersburg. Sie halten Nelken in der Hand und Rosen und Astern. «Alexej, wir vergessen dich nie», rufen sie immer wieder. Manche haben Tränen in den Augen. Dicht an dicht stehen sie im Kirchenvorhof und in den Strassen nebenan, sie klettern auf die Schneehügel und schwenken mit ihren Blumen. «Danke, Alexej!»

Workers carry the coffin and a portrait of Russian opposition leader Alexei Navalny out of the Church of the Icon of the Mother of God Soothe My Sorrows, in Moscow, Russia, Friday, March 1, 2024. Rela ...
Der Sarg von Alexej Nawalny wird aus der Kirche getragen.Bild: keystone

Die Behörden haben ihr Einschüchterungspotenzial derweil hochgefahren. An den Strassen entlang stehen alle fünf bis zehn Meter Männer der Nationalgarde und der Spezialpolizei Omon, Polizisten patrouillieren an den Metroausgängen und an Brückenzugängen, Sicherheitskräfte in Zivil filmen, in den Parks sitzen Polizisten hoch zu Ross.

Die Mobilfunkverbindungen sind gestört, das Internet funktioniert nicht. Immer wieder brüllen Polizisten, die Menschen sollten die Wege nicht blockieren. Doch die Menschen, jung wie alt, schreckt das alles nicht. «Wir vergessen dich nie! Wir werden nicht aufgeben!», rufen sie.

Aufgebahrt im offenen Grab

Nur langsam lassen zwei Polizisten die Menschen nach genauer Kontrolle in die Kirche, nach 40 Minuten ist der Abdankungsgottesdienst vorbei. Im offenen Grab liegt der tote 47-Jährige aufgebahrt, der am 16. Februar in der Strafkolonie «Polarwolf» hinterm Polarkreis sein Leben verlor. Seine Eltern Ljudmila und Anatoli sitzen in der Schummrigkeit unter der Kuppel, der Priester betet auf Altkirchenslawisch.

Anatoly Navalny, right, and Lyudmila Navalnaya, parents of Russian opposition leader Alexei Navalny walk to the Church of the Icon of the Mother of God Soothe My Sorrows, in Moscow, Russia, Friday, Ma ...
Anatoly Nawalny und Ljudmila Nawalnaja: Die Eltern von Alexej Nawalny auf dem Weg zum Abschiednehmen von ihrem Sohn.Bild: keystone

Etwa 300 Menschen werden es am Ende geschafft haben, sich von Nawalny zu verabschieden, bevor sein Sarg zurück in den Leichenwagen getragen und zum Borissowo-Friedhof zehn Autominuten weiter gebracht wird. Die Menschen klatschen wieder, werfen ihre Blumen auf den Wagen, ziehen in einer kilometerweiten Prozession zum Friedhof.

«Als Alexej starb, stürzte meine Welt ein. Alles vorbei, die Hoffnung tot», sagt Swetlana, die aus einer Kleinstadt an der Wolga nach Moskau gekommen ist. «Doch Alexej lächelte immer, selbst hinter Gittern hat er uns erheitert. Ich versuche, nun auch zu lächeln, und dem Staat, der uns so viel nimmt, der uns nicht einmal Blumen für einen Toten ablegen lässt, ins Gesicht zu lachen», sagt die 51-Jährige, die drei Stunden an der Kirche angestanden hat.

Wut, Trauer und Hilflosigkeit

Sie klingt trotzig, lachen aber kann sie an diesem Tag nicht. Sie bricht in Tränen aus. Auch Polina, einer 28-Jährigen, laufen Tränen über die Wangen, als sie den Weg an den vielen Polizisten vorbei sucht, um sich in den Zug der Trauernden zum Friedhof einzureihen. «Seit zwei Jahren spüre ich gleichzeitig Wut, Hilflosigkeit, Trauer. Ich bin für mich hier. Ich will mir selbst beweisen, dass wir nun für Alexej, für unser Land selbst kämpfen müssen». Zu lange habe sie nur gleichgültig zu Hause gesessen und gedacht, irgendeiner werde es schon machen, dass sie in einem freien Land leben könne, sagt sie. «Ich ging selten zu Strassenprotesten, vertraute auf andere. Aber nein, ich bin es selbst, die dafür einstehen muss. Das ist Alexejs Vermächtnis.»

People gather outside the Church of the Icon of the Mother of God Soothe My Sorrows, in Moscow, Russia, Friday, March 1, 2024. Relatives and supporters of Alexei Navalny are bidding farewell to the op ...
Junge Russinnen am Zaun vor der Kirche.Bild: keystone

So sprechen viele rund um die Kirche. Sagen, Nawalny habe sie gelehrt, zu politischen Subjekten zu werden. «Wir sind uns der Risiken bewusst, in einer Diktatur zu leben, in der es immer düsterer wird. Aber wir sind nicht allein. Ich sehe so viele Menschen hier, die genauso denken wie ich. Das stärkt», sagt die 40-jährige Natalja. Später hallt ein lautes «Nein zum Krieg» rund um die Kirche. Der Abschied ist auch ein politischer. Ein rührender und trauriger. Trotz den Niederträchtigkeiten des Staates in den Tagen vor der Beerdigung.

Dass Nawalny selbst als Leichnam die Politik des Landes mitbestimmt, zeigte der Umgang mit ihm und seiner Familie nach dessen Tod, den sein Team, seine Anhänger und auch die EU als politischen Mord bezeichnen. Erst war überhaupt nicht klar, wo sich die sterblichen Überreste des Oppositionellen befinden.

Ljudmila Nawalnaja, die Mutter des 47-Jährigen, suchte tagelang nach ihrem Sohn. Die Behörden hatten sie immer wieder vertröstet, auch unter Druck gesetzt. Sie sollte einer stillen Trauerfeier zustimmen, nur im engsten Kreis. Selbst Leichenwagenfahrer wurden von den Behörden unter Druck gesetzt, damit sie Nawalnys Leichnam nicht in die Kirche fahren.

epa11190154 People react outside the Church of the Icon of the Mother of God, ahead of the upcoming funeral of late Russian opposition leader Alexei Navalny, in Moscow, Russia, 01 March 2024. Navalny? ...
Trauernde vor der Kirche Gottesmutter-Ikone «Lindere mein Leid».Bild: keystone

Das Team Nawalny ist sich Schikanen jedoch gewohnt. Mittlerweile operiert es aus dem Ausland, in Russland gelten die Organisationen Nawalnys als extremistisch. «Jeder, der will, kann sich von Alexej verabschieden», sagte das Team immer wieder. Doch so einfach ist das nicht.

Zum Friedhof lässt die Polizei die Trauernden nicht, sperrt den Zugang. Selbst in Hinterhöfen, die kilometerweit weg sind, stellen Polizisten Absperrungen auf, damit sich die Menschen keine Schleichwege suchen. «Ich will nur Blumen ablegen. Wir werden doch Alexejs Lächeln nie mehr in echt sehen», sagt Swetlana und versucht, ihre Tränen zurückzuhalten. «Nein zum Krieg», rufen die Menschen, die Autos auf den Strassen hupen aus Solidarität. «Alexej, du bist nun frei!»

Riot police officers guard the area near the Church of the Icon of the Mother of God Soothe My Sorrows, in Moscow, Russia, Friday, March 1, 2024. Relatives and supporters of Alexei Navalny are bidding ...
Spezialeinheiten der Polizei vor der Kirche, in der Alexej Nawalny aufgebahrt wird.Bild: keystone
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13 Kommentare
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Die beliebtesten Kommentare
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Juliet Bravo
02.03.2024 00:32registriert November 2016
Ich bin sehr beeindruckt und bewegt. Das waren viel mehr, als ich erwartet habe, und sie haben nicht schweigend kondoliert sondern ihre Stimme erhoben.
472
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Zum Kommentar
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Watson Speaking
01.03.2024 23:35registriert Dezember 2022
RIP Alexej Nawalny. Dein demokratisch-liberaler Geist lebt weiter und wird die korrupten Autokraten besiegen - früher oder eben später.
373
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