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Von dem sibirischen Gulag bis nach Kanada – das Leben meiner Grossmutter

Zofia Grula
Zofia Grula

Damals, als die Sowjets meine Babcia nach Sibirien deportiert haben ...

Der Gulag in Sibirien, ein Waisenhaus in Indien, ein Krankenhaus in Afrika, ein Gefängnis in Italien. Das Leben meiner Grossmutter nahm viele Wendungen, aber irgendwie fand sie ein Happy Ever After.
26.03.2022, 07:1019.12.2022, 14:40
Emily Engkent
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Am 10. Februar 1940 kamen die Sowjets in das Haus meiner Babcia in Polen, hielten ihrem Vater eine Pistole an den Kopf und sagten, die Familie müsse gehen.

Zofia Grula und ihre Familie waren erst ein paar Jahre zuvor auf den Bauernhof in Sińków, einem Gebiet Polens, das heute zur Ukraine gehört, gezogen. Ihr Vater war Tierarzt.

Lage von Sińków, der Stadt, in der Zofia zur Zeit der sowjetischen Invasion 1939 lebte. Damals gehörte es zu Polen, heute zur Ukraine.
Lage von Sińków mit den aktuellen politischen Grenzen.Google maps

Ich habe bestimmte Details schon unzählige Male gehört. Sie hatten 20 Minuten Zeit, um ihre Sachen zu packen. Sie wurden in Schlitten transportiert und dann in einen Eisenbahnwaggon gepfercht, in dem es keine Sitze und keine Betten gab und nur ein Loch im Boden als Toilette diente. Für das Trinkwasser mussten sie Schnee sammeln.

Aber ich kann mir nicht wirklich vorstellen, wie es war. Sie waren einen Monat lang in diesem Zug. Meine Urgrossmutter war mit ihrer siebten Tochter schwanger. Wenn Menschen starben, wurden die Leichen aus dem Waggon gerollt und neben den Gleisen liegen gelassen.

1939 hatten Stalin und Hitler eine Vereinbarung zur Aufteilung Polens unter sich getroffen. Die polnische Nationalität sollte vernichtet werden. Stalin vertrieb mehr als eine Million Polen und Polinnen gewaltsam aus ihrer Heimat und schickte sie in Arbeitslager in Sibirien.

Karte der polnischen Teilung.
Karte der polnischen Teilung. Bild: Wikipedia/Lonio17

Meine Grossmutter war zu dieser Zeit acht Jahre alt. Die tierärztlichen Kenntnisse ihres Vaters kamen im Lager zum Einsatz. Ihre Mutter schlug Bäume im sibirischen Wald. Die Kinder wurden in die Schule geschickt, um sie mit der sowjetischen Denkweise zu indoktrinieren. Eine Geschichte, die sie immer erzählt, ging so:

«Die Lehrer sagten uns, wir sollten Gott um Süssigkeiten bitten. Wir baten, aber es kam nichts. Dann sagten sie uns, wir sollten ‹Batya› Stalin um Süssigkeiten bitten. Das taten wir und die Lehrer warfen Süssigkeiten für uns in die Luft.»

Der Hunger war ein ständiger Begleiter, und viele Leute starben in den Lagern. Die jüngste Schwester von Zofia wurde in Sibirien geboren. Aufgrund der Unterernährung, unter der sie als Baby litt, erreichte sie nie ihre volle Grösse als Erwachsene. Ich erinnere mich, dass ich sie überragte, als sie uns in Kanada besuchte.

Zofia über den Hunger in Sibirien

Video: watson

1941 griff Deutschland Russland an und den polnischen Gefangenen in den Lagern wurde Amnestie gewährt. Die Familie meiner Grossmutter durfte ausreisen, aber wohin? Schätzungsweise 100'000 Polen und Polinnen verliessen die Lager in Sibirien und reisten nach Süden.

In Usbekistan erkrankte die ganze Familie – mit Ausnahme von Zofia – an Typhus. Zofias Vater und eine ihrer Schwestern starben. Während die ganze Familie im Krankenhaus lag, war die elfjährige Zofia auf sich allein gestellt.

Zofia erzählt von ihren Monaten auf der Strasse

Video: watson

Monatelang lebte sie auf der Strasse und musste Essen stehlen, um zu überleben. Sie wurde von einer Russin aufgenommen und schliesslich mit ihrer überlebenden Familie wiedervereint. Zofia hatte sie alle für tot gehalten.

Die Familie nahm den letzten Transport aus der Sowjetunion und reiste in ein polnisches Flüchtlingslager in Persien und dann nach Balachadi, Jamnagar. In Indien hatte ein Maharadscha ein Waisenhaus für die polnischen Kinder eingerichtet. Für seine Grosszügigkeit wurde später eine Schule in Warschau nach ihm benannt.

Heute ist es Polen, das Flüchtlinge aufnimmt, darunter auch gestrandete indische Studenten.

Der Maharadscha von Jamnagar in Gujarat half während des Zweiten Weltkriegs 1000 polnischen Kindern, indem er ihnen Unterschlupf gewährte. Heute, 80 Jahre später, bietet Polen gestrandeten indischen Studenten aus der Ukraine Unterschlupf.

Das Waisenhaus war ein Ort der Erholung für meine Grossmutter und ihre Familie. Die harte Arbeit in Sibirien hatte die Bänder von Zofias Mutter beschädigt, und sie konnte kaum noch ein Glas Wasser halten. Während sie sich erholte, lebten die Kinder im Waisenhaus des Maharadschas, und als es ihr besser ging, arbeitete sie dort selbst als Köchin.

Zofia (links) und ihre Familien in Indien.
Zofia (links) und ihre Familie in Indien.

Meine Grossmutter hat uns viele Geschichten über ihre Zeit in Indien erzählt. Obwohl es nicht erlaubt war, hielt sie zahlreiche Haustiere, darunter eine Manguste und ein Gefäss voller Skorpione.

Nachdem Indien 1947 die Unabhängigkeit von Grossbritannien erlangt hatte, verliessen die polnischen Flüchtlinge das Land. Eine von Zofias Schwestern reiste in die Vereinigten Staaten, um in der katholischen Kirche zu studieren und schliesslich Nonne zu werden. Sie besuchte uns auch in Kanada, die einzige meiner polnischen Verwandten mit einem amerikanischen Akzent.

Zofia (Zweite von rechts) und ihre Familie in Kenia.
Zofia (zweite von rechts) und ihre Familie in Kenia.

Der Rest der Familie zog weiter in ein anderes Flüchtlingslager in Kampala, Uganda, und dann nach Mombasa, Kenia. Zofia, inzwischen Teenagerin, arbeitete an beiden Orten als Krankenschwester.

Zofia arbeitete als Krankenschwester in Afrika.
Zofia als Krankenschwester in Afrika.

Im Jahr 1952 zog die Familie weiter nach England. Auf der Schiffsreise dorthin machten sie in Italien Halt. Meine Grossmutter erzählte mir, wie sie und ihre Freunde dort Zigaretten gegen Weintrauben getauscht haben. Das war damals illegal, und sie landeten im Gefängnis. Der Schiffskapitän musste die Gruppe herausholen und der Polizei erklären, dass die Jugendlichen aus Polen die Gesetze nicht gekannt hatten.

In England lebte die Familie in einem anderen polnischen Flüchtlingslager in Springhill. Ich habe die Gegend 2019 mit meiner Familie besucht und wir haben das Foto meiner Grossmutter, ihrer Mutter und ihrer Schwester vor dem Broadway Tower nachgestellt.

Broadway Tower
Broadway Tower. Links 1952, Rechts 2019.

1953 fand die Krönung von Elisabeth II. statt und im ganzen Land gab es Feierlichkeiten. Auf einer dieser Feiern lernte meine Grossmutter meinen Grossvater kennen.

Mein Grossvater war in der Hälfte Polens gewesen, die von den Deutschen übernommen worden war. Seine eigene Geschichte führte ihn durch ein Arbeitslager in Österreich, die polnische Armee in Italien und Palästina und die Arbeit auf einem Fischerboot in Aberdeen, Schottland.

1954 heiratet Zofia in England
1954 heiratet Zofia in England.

Die beiden heirateten 1954 und zogen 1957 nach Kanada, wo Zofia – wie sie es ausdrückt – ihr «happy ever after» erlebte.

Zofia und Jerzy in Oshawa, Kanada.
Zofia und Jerzy in Oshawa, Kanada.

Im Jahr 2006 interviewte ich meine Grossmutter für ein Universitätsprojekt. Das war eines der ersten Videos, das ich je produziert habe. Hier ist es in voller Länge:

«A Good Life» Dokumentarfilm über Zofia Grula Pietrusiak

Video: extern / rest/Emily Engkent

Meine Mutter schreibt ein Buch über die Geschichte meiner Grossmutter und der anderen Polen mit ähnlichen Geschichten. Ich habe diesen Artikel mithilfe ihrer und der Recherchen meiner Tante geschrieben.

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51 Kommentare
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Die beliebtesten Kommentare
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Spin Doctor of Medicine
25.03.2022 16:04registriert August 2019
Toller Artikel. Danke.
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banda69
25.03.2022 16:15registriert Januar 2020
Liebe Emily...Danke für diesen ergreifenden Bericht einer unglaublichen Lebensgeschichte. 🙏❤️

Mein Grossvater war im KZ und hats überlebt. Er hat nie darüber gesprochen. "Ihr wisst nicht was Hunger bedeutet." Das war das einzige. Aber das Thema Krieg war allgegenwärtig. Eine traumatisierte Generation. Er ist leider in meiner frühen Jugend verstorben. Ich hätte gerne mehr über sein Leben erfahren.
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Rainbow Pony
25.03.2022 16:37registriert Februar 2018
Schöne Geschichte! Und vor allem auch sehr schön, weil du sie in vielen Details wiedergeben kannst. Meine Familie ist aufgrund von Armut und Krieg auf dem ganzen Globus verstreut, aber die Details sind heute nicht mehr rekonstruierbar. Ich weiss aber, dass ich Verwandte in Argentinien und den USA habe, relativ nahestehende sogar. Ich hoffe, sie sind so glücklich wie Zofia.
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