Am 10. Februar 1940 kamen die Sowjets in das Haus meiner Babcia in Polen, hielten ihrem Vater eine Pistole an den Kopf und sagten, die Familie müsse gehen.
Zofia Grula und ihre Familie waren erst ein paar Jahre zuvor auf den Bauernhof in Sińków, einem Gebiet Polens, das heute zur Ukraine gehört, gezogen. Ihr Vater war Tierarzt.
Ich habe bestimmte Details schon unzählige Male gehört. Sie hatten 20 Minuten Zeit, um ihre Sachen zu packen. Sie wurden in Schlitten transportiert und dann in einen Eisenbahnwaggon gepfercht, in dem es keine Sitze und keine Betten gab und nur ein Loch im Boden als Toilette diente. Für das Trinkwasser mussten sie Schnee sammeln.
Aber ich kann mir nicht wirklich vorstellen, wie es war. Sie waren einen Monat lang in diesem Zug. Meine Urgrossmutter war mit ihrer siebten Tochter schwanger. Wenn Menschen starben, wurden die Leichen aus dem Waggon gerollt und neben den Gleisen liegen gelassen.
1939 hatten Stalin und Hitler eine Vereinbarung zur Aufteilung Polens unter sich getroffen. Die polnische Nationalität sollte vernichtet werden. Stalin vertrieb mehr als eine Million Polen und Polinnen gewaltsam aus ihrer Heimat und schickte sie in Arbeitslager in Sibirien.
Meine Grossmutter war zu dieser Zeit acht Jahre alt. Die tierärztlichen Kenntnisse ihres Vaters kamen im Lager zum Einsatz. Ihre Mutter schlug Bäume im sibirischen Wald. Die Kinder wurden in die Schule geschickt, um sie mit der sowjetischen Denkweise zu indoktrinieren. Eine Geschichte, die sie immer erzählt, ging so:
Der Hunger war ein ständiger Begleiter, und viele Leute starben in den Lagern. Die jüngste Schwester von Zofia wurde in Sibirien geboren. Aufgrund der Unterernährung, unter der sie als Baby litt, erreichte sie nie ihre volle Grösse als Erwachsene. Ich erinnere mich, dass ich sie überragte, als sie uns in Kanada besuchte.
1941 griff Deutschland Russland an und den polnischen Gefangenen in den Lagern wurde Amnestie gewährt. Die Familie meiner Grossmutter durfte ausreisen, aber wohin? Schätzungsweise 100'000 Polen und Polinnen verliessen die Lager in Sibirien und reisten nach Süden.
In Usbekistan erkrankte die ganze Familie – mit Ausnahme von Zofia – an Typhus. Zofias Vater und eine ihrer Schwestern starben. Während die ganze Familie im Krankenhaus lag, war die elfjährige Zofia auf sich allein gestellt.
Monatelang lebte sie auf der Strasse und musste Essen stehlen, um zu überleben. Sie wurde von einer Russin aufgenommen und schliesslich mit ihrer überlebenden Familie wiedervereint. Zofia hatte sie alle für tot gehalten.
Die Familie nahm den letzten Transport aus der Sowjetunion und reiste in ein polnisches Flüchtlingslager in Persien und dann nach Balachadi, Jamnagar. In Indien hatte ein Maharadscha ein Waisenhaus für die polnischen Kinder eingerichtet. Für seine Grosszügigkeit wurde später eine Schule in Warschau nach ihm benannt.
Heute ist es Polen, das Flüchtlinge aufnimmt, darunter auch gestrandete indische Studenten.
Maharaja of Jamnagar in Gujarat helped save 1000 Polish Children during World War II by giving them shelter. 🇮🇳
— Aditya Raj Kaul (@AdityaRajKaul) February 28, 2022
Today 80 years later Poland is giving shelter to stranded Indian students from Ukraine. 🇵🇱
This is life.
This video of Polish shelter.
Thank you, @Adam_Burakowski. pic.twitter.com/8nHomtRJgT
Das Waisenhaus war ein Ort der Erholung für meine Grossmutter und ihre Familie. Die harte Arbeit in Sibirien hatte die Bänder von Zofias Mutter beschädigt, und sie konnte kaum noch ein Glas Wasser halten. Während sie sich erholte, lebten die Kinder im Waisenhaus des Maharadschas, und als es ihr besser ging, arbeitete sie dort selbst als Köchin.
Meine Grossmutter hat uns viele Geschichten über ihre Zeit in Indien erzählt. Obwohl es nicht erlaubt war, hielt sie zahlreiche Haustiere, darunter eine Manguste und ein Gefäss voller Skorpione.
Nachdem Indien 1947 die Unabhängigkeit von Grossbritannien erlangt hatte, verliessen die polnischen Flüchtlinge das Land. Eine von Zofias Schwestern reiste in die Vereinigten Staaten, um in der katholischen Kirche zu studieren und schliesslich Nonne zu werden. Sie besuchte uns auch in Kanada, die einzige meiner polnischen Verwandten mit einem amerikanischen Akzent.
Der Rest der Familie zog weiter in ein anderes Flüchtlingslager in Kampala, Uganda, und dann nach Mombasa, Kenia. Zofia, inzwischen Teenagerin, arbeitete an beiden Orten als Krankenschwester.
Im Jahr 1952 zog die Familie weiter nach England. Auf der Schiffsreise dorthin machten sie in Italien Halt. Meine Grossmutter erzählte mir, wie sie und ihre Freunde dort Zigaretten gegen Weintrauben getauscht haben. Das war damals illegal, und sie landeten im Gefängnis. Der Schiffskapitän musste die Gruppe herausholen und der Polizei erklären, dass die Jugendlichen aus Polen die Gesetze nicht gekannt hatten.
In England lebte die Familie in einem anderen polnischen Flüchtlingslager in Springhill. Ich habe die Gegend 2019 mit meiner Familie besucht und wir haben das Foto meiner Grossmutter, ihrer Mutter und ihrer Schwester vor dem Broadway Tower nachgestellt.
1953 fand die Krönung von Elisabeth II. statt und im ganzen Land gab es Feierlichkeiten. Auf einer dieser Feiern lernte meine Grossmutter meinen Grossvater kennen.
Mein Grossvater war in der Hälfte Polens gewesen, die von den Deutschen übernommen worden war. Seine eigene Geschichte führte ihn durch ein Arbeitslager in Österreich, die polnische Armee in Italien und Palästina und die Arbeit auf einem Fischerboot in Aberdeen, Schottland.
Die beiden heirateten 1954 und zogen 1957 nach Kanada, wo Zofia – wie sie es ausdrückt – ihr «happy ever after» erlebte.
Im Jahr 2006 interviewte ich meine Grossmutter für ein Universitätsprojekt. Das war eines der ersten Videos, das ich je produziert habe. Hier ist es in voller Länge:
Meine Mutter schreibt ein Buch über die Geschichte meiner Grossmutter und der anderen Polen mit ähnlichen Geschichten. Ich habe diesen Artikel mithilfe ihrer und der Recherchen meiner Tante geschrieben.
Mein Grossvater war im KZ und hats überlebt. Er hat nie darüber gesprochen. "Ihr wisst nicht was Hunger bedeutet." Das war das einzige. Aber das Thema Krieg war allgegenwärtig. Eine traumatisierte Generation. Er ist leider in meiner frühen Jugend verstorben. Ich hätte gerne mehr über sein Leben erfahren.
Du siehst deinem Grosi sehr ähnlich ☺️