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Warum die Ukraine russische Munitionsdepots in die Luft jagt

General view of the aftermath of a large series of explosion on an ammunition depot in Toropets, Russia, Wednesday Sept. 18, 2024. (Satellite image �2023 Maxar Technologies via AP)
Satellitenaufnahmen zeigen die weitflächige Zerstörung im russischen Munitionsdepot bei Toropez.Bild: keystone

Ukraine jagt russische Munitionsdepots in die Luft – das will Selenskyj damit erreichen

Die Explosionen sind massiv, die Folgen könnten gleich auf mehreren Ebenen weitreichend sein: Die Ukraine hat innert weniger Tage mit Drohnen bereits drei grosse russische Munitionsdepots angegriffen und zerstört.
23.09.2024, 18:56
Bojan Stula / ch media
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Zuerst sah es wie ein «Lucky Punch», ein Glückstreffer, aus. Doch nach diesem Wochenende herrscht Gewissheit: Die Ukraine hat gezielt in den vergangenen fünf Tagen mindestens drei grosse russische Munitionsdepots im Westen und Süden angegriffen und weitgehend zerstört. Die Ziele befanden sich zwischen 300 und 450 Kilometer hinter der Front.

Zweifellos steht diese lange geplante und gut koordinierte Aktion mit Wolodymyr Selenskyj aktueller USA-Reise und der Vorstellung seines Siegesplans im Zusammenhang. Am Dienstag will der ukrainische Präsident Joe Biden und Kamala Harris erläutern, wie er den Krieg zu einem siegreichen Abschluss bringen möchte. Darum sind Absicht und Effekt dieser Luftschläge gleich doppelt und dreifach:

Angriffe auf russische Munitionsdepots:

Bild
quelle: osm, lizenz odbl 1.0 / karte: mlu

Die naheliegendste Folge sind die unmittelbaren Auswirkungen auf den russischen Munitionsnachschub. Die drei getroffenen Depots bei Toropez (Region Tver), Oktyabr’skii und Tichorezk (nahe Krasnodar) flogen mit gewaltigen Explosionen in die Luft. Das belegten zahlreiche Bilder und Videoaufnahmen in den sozialen Medien sowie Satellitenaufnahmen.

Die zerstörten Raketen, Gleitbomben und Artilleriegeschosse bewegen sich nach Schätzungen von Fachleuten in der Grössenordnung von mehreren Zehntausend Tonnen. Der estnische Chef des Militärgeheimdienstes, Oberst Ants Kiviselg, gab alleine den Umfang der zerstörten Granaten in Toropez mit 30’000 Tonnen an. Das ist so viel, wie die gesamte russische Artillerie an allen Fronten während 75 Tagen verschiesst.

Die Gesamtverluste an allen drei getroffenen Zielen werden die russischen Boden- und Luftangriffe in nächster Zeit spürbar zurückbinden. Zudem zwingen diese Angriffe die russischen Munitionslogistiker, ihre Depotstandorte zu überdenken und allenfalls noch weiter hinter die Front zu versetzen.

Nach der Angriffswelle auf russische Ölraffinerien und der Bodenoffensive in Richtung Kursk sind die Luftschläge gegen die Munitionsdepots ein weiterer Schritt in der ukrainischen Strategie, den Krieg sichtbar auf russischen Boden zu tragen und so der russischen Bevölkerung ins Bewusstsein zu rufen. Präsident Selenskyj erhofft sich davon «einen fundamentalen Wechsel der Lage», wie er in seiner Videoansprache vom Samstag selbst betonte.

Die Explosionen in Toropez erreichten Erdbebenstärke. Nach den Angriffen auf Tichorezk riefen die russischen Behörden den Notstand aus, worauf die betroffenen Ortschaften evakuiert wurden. Ohne zivile Ziele direkt anzugreifen, versucht die Ukraine, unter der feindlichen Bevölkerung eine Kriegsmüdigkeit und Zweifel an Putins Kriegsführung zu verbreiten. Im Gegensatz dazu hatte Kiew in den ersten Monaten nach dem Überfall peinlichst darauf geachtet, russisches Staatsgebiet nicht zu tangieren. Diese Zurückhaltung ist in ukrainischen Augen inzwischen nicht mehr zielführend.

Der ehemalige australische Generalmajor und Kriegsanalyst Mick Ryan sieht in den erfolgreichen Angriffen eine neue Stufe und «wichtige Anpassung der strategischen Fähigkeit» der Ukraine, Langstrecken-Schläge durchzuführen. Angefangen bei der Aufklärung und geheimdienstlichen Zielerkennung – offenbar wurde der Angriff auf Toropez just in dem Moment durchgeführt, als ein mit 2000 Tonnen beladener Munitionszug aus Nordkorea einfuhr, was die verheerende Wirkung der Bombardierung mehrfach verstärkte. Dann als Beweis der Leistungsfähigkeit der ukrainischen Drohnenindustrie, die laut offiziellen Angaben inzwischen jährlich 1 Million Stück verschiedener Typen produziert.

Wolodymyr Selenskyj unterstrich in seiner Ansprache, die jüngsten Angriffe seien mit eigenen, in der Ukraine hergestellten Drohnen durchgeführt worden, die offensichtlich in der Lage waren, die russische Flugabwehr auf einer langen Strecke über Feindgebiet zu überwinden. Laut Ryan ist diese «Langstrecken-Kampagne ein essenzieller Teil der ukrainischen Anstrengungen, das Kriegsende herbeizuführen». Anderseits dürfe man von ihr aber auch keine Wunder erwarten.

Nicht minder wichtig ist schliesslich der politische Aspekt. Mit dem Erfolgsnachweis dieser Angriffe im Gepäck fällt es Wolodymyr Selenskyj auf seiner aktuellen USA-Reise leichter, die Bedeutung von Langstrecken-Schlägen zu unterstreichen.

Seit Wochen schon versuchen die Ukrainer, von ihren Verbündeten die Genehmigung für den Einsatz von westlichen Distanzwaffen auf russischem Boden zu erlangen. Die USA sind dieser Zustimmung bisher konsequent ausgewichen. Ebenso hat Bundeskanzler Olaf Scholz ein weiteres Mal die Lieferung von Taurus-Marschflugkörpern abgelehnt.

Die Erlaubnis und Lieferung von Langstreckenwaffen würden das Kriegsende beschleunigen, betonte Selenskyj in seiner Videoansprache: «Die Ukraine benötigt die volle Langstrecken-Kapazität. Nicht nur unsere eigenen Drohnen und Raketen, denen es momentan an Reichweite fehlt, sondern alles, was die Welt bieten kann.»

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36 Kommentare
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Die beliebtesten Kommentare
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Sebastianus
23.09.2024 19:25registriert Dezember 2023
Hoffentlich treffen sie weiterhin pro Tag mindestens 5 grosse solche Lager.
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Liebu
23.09.2024 19:35registriert Oktober 2020
Diese Munition ist ja gedacht Schafen anzurichten. Wenn sie das tut, bevor sie abgefeuert werden, um so besser.
Das gibt den Ukrainern ein paar schlaflose Nächte weniger, dafür aber ein bisschen mehr oder länger Strom, Wärme und Wasser.
Wenn schon Schaden, dann ist er da genau richtig und erst noch ohne zivile Infrastruktur zu zerstören.
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James McNew
23.09.2024 19:02registriert Februar 2014
Hm, was könnte die Ukraine damit wohl erreichen wollen?
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