Zuerst sah es wie ein «Lucky Punch», ein Glückstreffer, aus. Doch nach diesem Wochenende herrscht Gewissheit: Die Ukraine hat gezielt in den vergangenen fünf Tagen mindestens drei grosse russische Munitionsdepots im Westen und Süden angegriffen und weitgehend zerstört. Die Ziele befanden sich zwischen 300 und 450 Kilometer hinter der Front.
Drone strike on the main Russian artillery ammunition depot in the village of Kamenny, Tikhoretsky District, Krasnodar Krai. The destroyed depots here allegedly contained ammunition from North Korea.
— WarTranslated (Dmitri) (@wartranslated) September 21, 2024
Videos will probably surface soon where brave Russian generals talked about… pic.twitter.com/KGCIusVwC4
Zweifellos steht diese lange geplante und gut koordinierte Aktion mit Wolodymyr Selenskyj aktueller USA-Reise und der Vorstellung seines Siegesplans im Zusammenhang. Am Dienstag will der ukrainische Präsident Joe Biden und Kamala Harris erläutern, wie er den Krieg zu einem siegreichen Abschluss bringen möchte. Darum sind Absicht und Effekt dieser Luftschläge gleich doppelt und dreifach:
Die naheliegendste Folge sind die unmittelbaren Auswirkungen auf den russischen Munitionsnachschub. Die drei getroffenen Depots bei Toropez (Region Tver), Oktyabr’skii und Tichorezk (nahe Krasnodar) flogen mit gewaltigen Explosionen in die Luft. Das belegten zahlreiche Bilder und Videoaufnahmen in den sozialen Medien sowie Satellitenaufnahmen.
Die zerstörten Raketen, Gleitbomben und Artilleriegeschosse bewegen sich nach Schätzungen von Fachleuten in der Grössenordnung von mehreren Zehntausend Tonnen. Der estnische Chef des Militärgeheimdienstes, Oberst Ants Kiviselg, gab alleine den Umfang der zerstörten Granaten in Toropez mit 30’000 Tonnen an. Das ist so viel, wie die gesamte russische Artillerie an allen Fronten während 75 Tagen verschiesst.
Die Gesamtverluste an allen drei getroffenen Zielen werden die russischen Boden- und Luftangriffe in nächster Zeit spürbar zurückbinden. Zudem zwingen diese Angriffe die russischen Munitionslogistiker, ihre Depotstandorte zu überdenken und allenfalls noch weiter hinter die Front zu versetzen.
Today, we once again commend our warriors for their precision—specifically on enemy territory. This is what fundamentally changes the situation—our ability to bring the war back home to Russia.
— Volodymyr Zelenskyy / Володимир Зеленський (@ZelenskyyUa) September 21, 2024
Another arsenal in Russia has been hit, and it was a significant one for the… pic.twitter.com/OjHvLOOo8R
Nach der Angriffswelle auf russische Ölraffinerien und der Bodenoffensive in Richtung Kursk sind die Luftschläge gegen die Munitionsdepots ein weiterer Schritt in der ukrainischen Strategie, den Krieg sichtbar auf russischen Boden zu tragen und so der russischen Bevölkerung ins Bewusstsein zu rufen. Präsident Selenskyj erhofft sich davon «einen fundamentalen Wechsel der Lage», wie er in seiner Videoansprache vom Samstag selbst betonte.
Die Explosionen in Toropez erreichten Erdbebenstärke. Nach den Angriffen auf Tichorezk riefen die russischen Behörden den Notstand aus, worauf die betroffenen Ortschaften evakuiert wurden. Ohne zivile Ziele direkt anzugreifen, versucht die Ukraine, unter der feindlichen Bevölkerung eine Kriegsmüdigkeit und Zweifel an Putins Kriegsführung zu verbreiten. Im Gegensatz dazu hatte Kiew in den ersten Monaten nach dem Überfall peinlichst darauf geachtet, russisches Staatsgebiet nicht zu tangieren. Diese Zurückhaltung ist in ukrainischen Augen inzwischen nicht mehr zielführend.
This week’s strikes on Russian munitions storage facilities are part of the maturing Ukrainian strategic strike campaign. Long-range strike has been an important strategic adaptation for the Ukrainians since 2022. There is much other nations can learn from this. 1/17 🧵 pic.twitter.com/wQZ0Svnh5w
— Mick Ryan, AM (@WarintheFuture) September 23, 2024
Der ehemalige australische Generalmajor und Kriegsanalyst Mick Ryan sieht in den erfolgreichen Angriffen eine neue Stufe und «wichtige Anpassung der strategischen Fähigkeit» der Ukraine, Langstrecken-Schläge durchzuführen. Angefangen bei der Aufklärung und geheimdienstlichen Zielerkennung – offenbar wurde der Angriff auf Toropez just in dem Moment durchgeführt, als ein mit 2000 Tonnen beladener Munitionszug aus Nordkorea einfuhr, was die verheerende Wirkung der Bombardierung mehrfach verstärkte. Dann als Beweis der Leistungsfähigkeit der ukrainischen Drohnenindustrie, die laut offiziellen Angaben inzwischen jährlich 1 Million Stück verschiedener Typen produziert.
Wolodymyr Selenskyj unterstrich in seiner Ansprache, die jüngsten Angriffe seien mit eigenen, in der Ukraine hergestellten Drohnen durchgeführt worden, die offensichtlich in der Lage waren, die russische Flugabwehr auf einer langen Strecke über Feindgebiet zu überwinden. Laut Ryan ist diese «Langstrecken-Kampagne ein essenzieller Teil der ukrainischen Anstrengungen, das Kriegsende herbeizuführen». Anderseits dürfe man von ihr aber auch keine Wunder erwarten.
Nicht minder wichtig ist schliesslich der politische Aspekt. Mit dem Erfolgsnachweis dieser Angriffe im Gepäck fällt es Wolodymyr Selenskyj auf seiner aktuellen USA-Reise leichter, die Bedeutung von Langstrecken-Schlägen zu unterstreichen.
Seit Wochen schon versuchen die Ukrainer, von ihren Verbündeten die Genehmigung für den Einsatz von westlichen Distanzwaffen auf russischem Boden zu erlangen. Die USA sind dieser Zustimmung bisher konsequent ausgewichen. Ebenso hat Bundeskanzler Olaf Scholz ein weiteres Mal die Lieferung von Taurus-Marschflugkörpern abgelehnt.
Die Erlaubnis und Lieferung von Langstreckenwaffen würden das Kriegsende beschleunigen, betonte Selenskyj in seiner Videoansprache: «Die Ukraine benötigt die volle Langstrecken-Kapazität. Nicht nur unsere eigenen Drohnen und Raketen, denen es momentan an Reichweite fehlt, sondern alles, was die Welt bieten kann.»
Das gibt den Ukrainern ein paar schlaflose Nächte weniger, dafür aber ein bisschen mehr oder länger Strom, Wärme und Wasser.
Wenn schon Schaden, dann ist er da genau richtig und erst noch ohne zivile Infrastruktur zu zerstören.