Die Bombe schlug neben einem Gehöft ein, doch der Zünder funktionierte nicht. So schlitterte der mehr als 500 Kilogramm schwere Brummer den Hang hinunter. Dabei wurden dem Sprengkörper die Tragflächen aus Leichtmetall abgerissen. Sie blieben in einem grossen Loch stecken, während der Blindgänger erst weiter unten in der Talsenke zum Stillstand kam.
Doch nur diesmal hatten die wenigen Bewohner des Weilers Glück im Unglück. Andere, nicht weniger schwere Bomben explodierten und hinterliessen riesige Krater. Alle Häuser des kleinen Dorfs sind nun zerstört oder zumindest stark beschädigt, die Dächer von den Druckwellen abgedeckt.
Zurückgeblieben sind nur ein paar Soldaten und ein Bauer, der uns von seinem Gehöft wegscheucht. Er hat Angst, dass unser Auto die Aufmerksamkeit russischer Aufklärungsdrohnen auf sich ziehen könnte. Die nächste Bombe würde dann seinem Zuhause gelten.
Einer der ukrainischen Soldaten heisst Igor, er ist Fahrer eines Schützenpanzers. Sein Alter gibt er mit 39 Jahren an, doch sieht er mit seinen grauen Haaren und dem wilden Bart eher wie ein Fünfzigjähriger aus. «Gegen diese Gleitbomben sind wir machtlos», erzählt er. «Wenn wir Flugzeuge hören, verkriechen sich ein paar von uns in den Kellern, doch ich ziehe es vor, an der frischen Luft zu sterben.»
Seit etwa einem Jahr verwendet die russische Luftwaffe Gleitbomben – eine Mischung aus einer altmodischen Fliegerbombe und einer Art Segelflugzeug mit ausklappbaren Tragflächen und Höhenruder. Flügel, Ruder und Satellitennavigation sind in einem primitiven Rumpf untergebracht, der mit breiten Metallbändern mit der Bombe verbunden ist. So wird eine billige Freifallbombe zu einer Lenkwaffe nachgerüstet.
Die russischen Piloten werfen sie in grosser Höhe ab. Dann werden die Tragflächen automatisch ausgeklappt, wodurch die Waffe – statt frei zu fallen – in den Gleitflug übergeht. Das bringt zwei Vorteile gegenüber herkömmlichen Bomben: Das Flugzeug kann lange vor der Front abdrehen und entgeht damit der gegnerischen Flugabwehr. Zugleich wird der Sprengkörper durch einen vorher programmierten Lenkmechanismus einigermassen präzise ins Ziel gesteuert.
Etwa 30 Kilometer von Igors Dorf entfernt können wir auf einer kleinen Anhöhe beobachten, wie russische Suchoi-35-Kampfjets Gleitbomben auf die Frontstadt Awdijiwka abwerfen. Die Flugzeuge fliegen sehr hoch und sind auf den ersten Blick nur an ihren Kondensstreifen erkennbar. Sobald sie ihre Last auf den Weg gebracht haben, drehen sie ab und fliegen mit grosser Geschwindigkeit zurück.
In der Zwischenzeit legt die Gleitbombe schätzungsweise gut 20 Kilometer zurück, bis sie mit einem dumpfen Krachen einschlägt und einen Rauchpilz in den Himmel wachsen lässt. Vieles lässt sich dabei nur durch ein Fernglas erkennen.
Und was macht die ukrainische Luftverteidigung? Systeme wie die amerikanischen Patriot-Raketen könnten die Russen vom Himmel holen, doch diese Waffen benötigen die Ukrainer, um die Hauptstadt Kiew zu beschützen. Die meisten in Frontnähe stationierten, mobilen Flugabwehrwaffen haben dagegen eine zu geringe Reichweite, um den hochfliegenden Su-35 gefährlich zu werden. Weil die Ukraine immer noch keine westlichen Kampfflugzeuge erhalten hat, brauchen sich die russischen Piloten nicht gross zu fürchten.
Keine 500 Meter hinter unserer Stellung steht zwar ein kleiner Raupenpanzer mit Flugabwehrlenkwaffen, doch er bleibt während der Luftangriffe erstaunlich still. Als wir später nachsehen, stellt sich das Gefährt als Attrappe aus dünnem Blech heraus, das aber noch aus 50 Metern Entfernung täuschend echt wie ein britischer Flugabwehrpanzer des Typs Stormer aussieht. Die Ukrainer haben sogar ein Tarnnetz über den Blechhaufen gezogen, um die Russen zu täuschen.
Von der Anhöhe gut sichtbar ist eine riesige Fabrik, in der früher rund 4000 Angestellte aus Kohle Koks und chemische Produkte herstellten. Nun steht das Werk, das grösste seiner Art in Europa, wie eine Festung am Eingang von Awdijiwka, einer Stadt, die in ihren besten Jahren knapp 40'000 Einwohner hatte.
Auch wenn der Ort kleiner ist als das nicht weit entfernte, inzwischen von den Russen eroberte Bachmut, hat Awdijiwka eine viel grössere militärische Bedeutung. Es ist das Tor zum seit 2014 russisch besetzten Donezk, der Hauptstadt des gleichnamigen Oblasts. Die beiden Städte sind nur wenige Kilometer voneinander entfernt, und selbst von unserer Anhöhe aus sind Hochhäuser in den Aussenvierteln von Donezk von blossem Auge erkennbar.
Das auf drei Seiten umzingelte Awdijiwka wirkt also wie ein Stachel im Fleisch der russisch besetzten Gebiete. Russlands Ziel, den ganzen Donbass unter seine Kontrolle zu bringen, bleibt ohne die Eroberung Awdijiwkas illusorisch. Deshalb ist die Frontstadt schon seit 2014 umkämpft, und die Ukrainer haben hier die vielleicht stärksten Verteidigungslinien der gesamten Front errichtet. Fällt die Stadt, ist der Weg bis ins 45 Kilometer weiter im Landesinnern gelegene Pokrowsk praktisch frei.
Seit dem 10. Oktober, dem Beginn der russischen Offensive, versuchen Moskaus Truppen, in zwei Zangenbewegungen vorzustossen, um einen Belagerungsring um die Stadt zu ziehen. Dabei mussten sie die vielleicht grössten Verluste seit Beginn der Invasion einstecken. Bildmaterial belegt inzwischen, dass die Ukrainer bis zu 200 Fahrzeuge zerstörten, darunter unzählige Kampf- und Schützenpanzer. Dennoch rücken die Russen weiter vor, besonders in der Nähe der Koksfabrik. In deren unmittelbarer Nähe liegt die einzige Strasse, die Awdijiwka mit dem ukrainischen Hinterland verbindet.
Wir unterhalten uns mit einem Trupp Soldaten, die das Gelände vor unserer Stellung mit einer grossen Aufklärungsdrohne absuchen. Sie gehören zu einer mit westlichem Material ausgerüsteten Brigade, die im Sommer als Speerspitze der ukrainischen Gegenoffensive im Süden eingesetzt wurde.
Nun verteidigen ihre deutschen Leopard-2-Kampfpanzer und amerikanischen Bradley-Schützenpanzer erstmals eine ukrainische Stadt. Die Drohnenpiloten erzählen, dass die Russen versuchen, sich durch Tunnels unter der Eisenbahnlinie durchzugraben, die östlich der Koksfabrik verläuft.
Ganz in der Nähe befindet sich die eindrückliche Abraumhalde des Fabrikgeländes, der grösste Hügel weit und breit. Er befindet sich inzwischen in russischer Hand. Durch das Fernglas lässt sich eine rote Fahne erkennen, die auf der Halde im Wind weht.
Im Moment ist der Korridor, durch den die Ukrainer Nachschub in die Stadt bringen und Verwundete evakuieren können, noch etwa sieben Kilometer breit. Sollten die Russen allerdings die Koksfabrik erobern, wäre die Stadt auf Dauer wohl unhaltbar.
Während Granaten und Raketen auf die ukrainischen Stellungen westlich der Eisenbahnlinie niederprasseln, machen sich ein Leopard und ein Bradley zum Gegenangriff bereit. Sie preschen durch den Weiler Berdychi und unterstützen die ukrainische Infanterie auf einer Anhöhe östlich davon. Manchmal ist der Mündungsblitz des Leopards in einem arg zerschossenen Wäldchen zu erkennen. Nach der Aktion ziehen sich die Panzer sofort zurück. Dabei fällt auf, wie schnell und leise sich das deutsche Ungetüm bewegen kann.
Nun verstärken die Russen das Artilleriefeuer, und hoch oben am Himmel ziehen Kampfjets Kondensstreifen hinter sich her. Elegant drehen sie ab, nachdem sie ihre Last abgeworfen haben. Dann dauert es etwas, bis wir eine Mischung aus Fauchen und Pfeifen hören. Ein, zwei Sekunden später rauscht eine Gleitbombe – gut sichtbar – an unserer Stellung vorbei und explodiert etwa einen Kilometer entfernt. Weitere Explosionen in der Umgebung und auch in der Koksfabrik folgen.
Als die Artillerie die Panzerattrappe hinter uns ins Visier nimmt und Granaten über unsere Köpfe fliegen, ist es Zeit aufzubrechen. Wir versuchen, ein paar Kilometer weiter nördlich nochmals einen Blick aufs Gefechtsfeld zu erhaschen, doch dort ist das Gelände flach und von den Russen einsehbar. Zu gefährlich, wir drehen um.
Neben der Strasse liegt ein umgekipptes Velo mit einem Zivilisten, dessen Fuss noch im Gestänge des Fahrrads verheddert ist. Wurde der Mann von Schrapnells getroffen? Aus der Nähe sind weder Blut noch Verletzungen sichtbar, der Mann atmet. Als ihn der Übersetzer anstupst, hebt der Zivilist bloss die Faust, den Daumen nach oben. Der Mann möchte einfach seinen Rausch ausschlafen, mitten in der Kampfzone. (aargauerzeitung.ch)
Was nützt es, nur immer das zu liefern, dass knapp für die Verteidigung reicht?
Was ist das Ziel des Westens?
Klar, ohne die Hilfe, gäbe es die Ukraine wohl nicht mehr. Aber dieses zögerliche Handeln spielt einzig und alleine den Ruzzen in die Hände!
Was können wir froh sein, dass das ruzzische Militär auf dem Papier um einiges stärker war, als es in Wirklichkeit ist!
Hätten sie doch nur nicht so viele Menschen, denen es egal ist, für einen kleinen Mann, in einem sinnlosen Krieg zu sterben..
Moderne Kampfjets sind gemäß dieser Aussage also nach wie vor unabdingbar für eine effiziente interdisziplinäre Landesverteidigung.
Verstehe ich das richtig, dass der Kriegsverlauf anders verlaufen wäre, hätte die Ukraine F-35?
Was für Jets hat die Ukraine im Moment im Einsatz?