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Butscha – wieso jeder von uns zum Täter werden kann

Butscha: Wieso jeder von uns zum Täter werden kann – und was die Bilder gefährlich macht

Psychologen zeigen sich wenig überrascht von den brutalen Verbrechen, die russische Truppen in der Ukraine gegenüber wehrlosen Menschen begehen. Fast jeder von uns, sagt ein Kriegsexperte, wäre dazu in der Lage.
09.04.2022, 13:3610.04.2022, 12:28
Samuel Schumacher / ch media
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Auf den Strassen des Kiewer Vororts Butscha lagen tagelang hunderte Leichen von ermordeten Dorfbewohnern herum.
Auf den Strassen des Kiewer Vororts Butscha lagen tagelang hunderte Leichen von ermordeten Dorfbewohnern herum.Bild: Keystone

Wer macht so etwas? Wer ermordet unschuldige Menschen auf offener Strasse, exekutiert gefesselte Dorfbewohner und vergewaltigt wehrlose Mädchen? Das Massaker von Butscha hat die Welt schockiert. Die Bilder aus dem Vorort von Kiew sind schwer verdaulich. Überraschen aber tun sie Experten nicht. Der Psychotherapeut Eugen Sorg, 73, hat jahrelang als Kriegsreporter und Delegierter des Roten Kreuzes in Krisengebieten gearbeitet. Er sagt: «Wenn der Krieg in der Ukraine noch eine Weile dauert, dann ist Butscha wohl nur die Spitze des Eisbergs des Grauens.» Gräueltaten ­seien die traurige Realität in jedem Konflikt. «Denken Sie nur an den Jugoslawienkrieg, an den Völkermord in Ruanda oder den Krieg in Syrien. Es gibt mehr als genug Anschauungsmaterial, das uns an der Friedfertigkeit und der Rationalität des Menschen zweifeln lässt.»

«Dieses Brutale, das hat auch seine Verlockung»

Dass ganz normale Menschen in der Lage sind, brutale Dinge zu tun, haben amerikanische Psychologen bereits 1961 herausgefunden. Beim Milgram-Experiment zeigte sich ein grosser Teil der ­freiwilligen Probanden bereit, auf Kommando anderen Menschen tödliche Stromschläge zu verpassen. Beim Stanford-Gefängnis-Experiment 1971 versuchten Psychologen, mit Freiwilligen den Gefängnisalltag zu simulieren. Nach wenigen Tagen musste das Experiment abgebrochen werden, weil die freiwilligen Wärter die freiwilligen Gefangenen zu sehr quälten.

«Der Mensch ist ein heikles Wesen. Es braucht nicht viel – dann läuft er aus dem Ruder», sagt der Psychotherapeut Eugen Sorg. Das habe nicht zuletzt das gut untersuchte Massaker im vietnamesischen Dorf My Lai gezeigt, wo amerikanische Soldaten 1968 mehr als 500 wehrlose Menschen grundlos ermordeten.

«Da kamen ganz normale, gebildete Menschen in den Blutrausch. Keiner von uns ist dagegen gefeit.»
Policemen work to identify civilians who were killed during the Russian occupation in Bucha, Ukraine, on the outskirts of Kyiv, before sending the bodies to the morgue, Wednesday, April 6, 2022. (AP P ...
Die Leichen der Ermordeten auf dem Friedhof von Butscha.Bild: keystone

Die Ursache für solche Gewalteskapaden sieht Sorg in der menschlichen Veranlagung. «Der Mensch trägt ein reiches Reservoir an evolutionär gewachsenen destruktiven und aggressiven Trieben in sich, die im Laufe der Entwicklungsgeschichte wohl durchaus sinnvoll gewesen sind.» Diese Triebe könnten aber schnell ausser Kontrolle geraten. «Dieses Brutale, das hat auch seine Verlockung und stellt eine permanente Bedrohung der Zivilisation dar», sagt Sorg.

Das Morden und Vergewaltigen wird immer einfacher

Eugen Sorg, Kriegsreporter und Psychotherapeut.
Eugen Sorg, Kriegsreporter und Psychotherapeut.Bild: ZVG

In seinem Buch «Die Lust am Bösen» schreibt Sorg über zahlreiche Begegnungen mit Kämpfern, die aus purer Freude an der Brutalität gemordet und vergewaltigt haben. Die Begegnung mit einem jungen Mann in der somalischen Hauptstadt Mogadischu ist ihm besonders geblieben: «Er hatte ein Gewehr, lebte von Überfällen, hat Frauen vergewaltigt. Er sagte mir, er wolle niemals in Europa leben. Das Leben in Mogadischu sei viel besser.» Das eigentliche Problem sieht Sorg in der zunehmenden Enthemmung der Täter. «Nach dem ersten Mord müssen viele kotzen. Beim zweiten Mal geht’s einfacher. Beim dritten Mal ist es schon fast Routine.»

Um diesen Hemmschwellen-Mechanismus wisse auch der Kriegstreiber Wladimir Putin, sagt der Konstanzer Kriegspsychologe Thomas Elbert, 72. «Der Kreml schickte nicht umsonst erfahrene Kämpfer aus Syrien und Tschetschenien in die Ukraine. Diese Männer haben viel Erfahrung im Töten und kaum noch Hemmungen. Solche ‹Vorbilder› brauchen die jungen Soldaten, um ihre eigenen Hemmschwellen zu überwinden», erklärt Elbert, der die Psyche von Kriegern in diversen Konflikten untersucht hat.

Spannend sind in diesem Zusammenhang die Erhebungen des Historikers Samuel Marshall. Marshall schätzt, dass im Zweiten Weltkrieg nur 20 Prozent der US-Soldaten von ihrer Waffe Gebrauch gemacht haben. Durch spezifisches Training – etwa, indem man die klassischen Zielscheiben durch menschliche Silhouetten ersetzte und dadurch die Soldaten enthemmte – wurde die Effizienz der Soldaten gesteigert. Im Vietnamkrieg gaben bereits 95 Prozent aller US-Soldaten mindestens einen Schuss ab.

Thomas Elbert, Kriegspsychologe.
Thomas Elbert, Kriegspsychologe.Bild: Wikipedia

Der gefährliche Werbeeffekt der ukrainischen Kriegsbilder

Im Krieg in der Ukraine nutzt Putin eine weitere Massnahme, um seinen Truppen die Angst am Töten zu nehmen. Die Ukraine sei unterwandert von «Nazis», betont der Kreml-Chef immer wieder. Für den Kriegspsychologen Thomas Elbert nicht überraschend: Jeder potenzielle Feind muss entmenschlicht werden. Das kann durch technologische Distanz geschehen (etwa, indem man Feinde mit Drohnen oder ferngesteuerten Waffen angreift) oder durch ideologisches Niedermachen des Gegners. «Diese Propaganda ist unerlässlich für die Kriegsmaschinerie.»

Gefährlich ist in Elberts Augen, dass diese enthemmten Soldaten irgendwann Freude finden am Töten. «Jagd auf Menschen zu machen, kann faszinierend sein. Denken Sie an Computerspiele wie ‹Call of Duty›. Die machen vielen Menschen Spass. Und dieses Lust-Empfinden, das gibt’s erst recht auch im nicht-virtuellen Krieg», sagt Elbert.

Die Psychologie hat für dieses Verhalten einen Fachbegriff: appetitive Aggression. Gewalt, erklärt Thomas Elbert, könne man zur Selbstverteidigung oder aus räuberischer Absicht anwenden – oder eben aus reiner Lust. «Diese appetitive Aggression steckt in jedem von uns drin und kann unter bestimmten Umständen geweckt werden», sagt der Kriegspsychologe. Einmal geweckt, sei sie schwer zu stillen:

«Beim Krieg ist es wie beim Sex: Sie können unter Umständen jahrelang enthaltsam leben. Aber die Erinnerung an Lustorgien wird nie gelöscht.»

Betroffen seien überwiegend Männer. «Es gibt aber auch Beispiele von Frauen, die im Krieg zu sadistischen Kämpferinnen geworden sind.»

Angst macht Elbert, dass die Bilder aus Butscha die Kriegslust auch in Teilen unserer Gesellschaft weckt und Europa dadurch in einen neuen Militarismus ­hineinschlittert. Auch Psychotherapeut Eugen Sorg sieht diese Gefahr und erinnert an die Terrororganisation «Islamischer Staat», die vor Jahren bereits mit brutalen Gewaltvideos weltweit junge Kämpfer rekrutiert hatte. «Die jungen Männer, die damals in die Kriegsgebiete gereist sind, sind gegangen wegen des Versprechens, straffrei Brutalitäten ausüben zu können, Sexsklavinnen zu haben, Menschen zu töten. Das war die Verführung der totalen Enthemmung», glaubt Sorg. «Auf gewissen Menschen haben die Bilder aus Butscha sicher einen ähnlichen Werbeeffekt.» (aargauerzeitung.ch)

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173 Kommentare
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Die beliebtesten Kommentare
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Tobi-wan
09.04.2022 14:05registriert März 2015
Mein Opa (Deutscher 2. WK) hat mir 50 Jahre nach Kriegsende begonnen Dinge zu erzählen. Wie sie sich von Kirschkernen ernährt haben usw.
Eine Aussage ist mir aber vor allem geblieben:
"Niemand der bei uns gekämpft hat, war frei von Schuld. Das gilt auch für unsere Feinde"

Wie ein Mensch sich im Krieg verhält weiss man erst, wenn er im Krieg ist.
Aussagen von Menschen wie "sowas würde ich nicht machen", auf die reagiere ich allergisch. Man weiss es nicht. In der warmen Stube ist es einfach. Dort draussen mit Aggression, Frust, Tot und Leid ist es eine andere Welt.
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Forrest Gump
09.04.2022 15:34registriert Februar 2014
Die beiden genannten Experimente (Milgram & Stanford-Prison) wurden beide nachträglich als manipuliert entlarft. Leider ist dies immernoch wenig bekannt und die vermeintlichen Experten hatten da den Ruhm für ihr "Experiment" bereits eingeheimst. Gibt spannende Bücher darüber. In Tat und Wahrheit wurden die Wärter im Experiment klar instruiert, dass sie sich so zu verhalten haben. Als man das Experiment wissenschaftlich korrekt wiederholte, endete es damit, dass Wärter und Gefangene einfach eine gute Zeit miteinander hatten und Spiele spielten. Der Mensch ist zum Glück nicht per se schlecht.
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Habedi
09.04.2022 13:48registriert Januar 2016
Was sind wir nur für eine kranke Spezies...
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