«Zu lange den Märchenerzählungen geglaubt»: Wie stark ist Putins Armee wirklich?
Mit Ferndiagnosen ist es so eine Sache: Renommierte Experten wie Markus Reisner oder Alexander Gabujew haben in Interviews in dieser Zeitung vor einem Sieg Russlands gewarnt, sollte die Ukraine nicht wesentlich umfangreicher als bisher vom Westen mit Nachschub und neuer Militärtechnologie versorgt werden.
Der österreichische Bundesheer-Oberst Reisner begründet dies in erster Linie mit den grösseren Ressourcen Russlands, welche in diesem Abnützungskrieg entscheidend seien.
Auch Gabujew sieht den völkerrechtswidrigen Aggressor auf den Schlachtfeldern im Vorteil, weil Russland «mehr Soldaten, Ausrüstung und Munition einsetzen kann» und diese Überlegenheit weiterhin in kleine Gebietsgewinne umsetzt.
Laut Gabujew ist Moskaus militärische Vormacht der Hauptgrund dafür, weshalb Kreml-Herrscher Wladimir Putin bisher sämtliche Register zur Verhinderung des von der Ukraine, den USA und der EU geforderten 30-tägigen Waffenstillstands gezogen hat. Entsprechend könnten auch von den Verhandlungen in Istanbul keine wesentlichen Schritte hin zu einem Kriegsende erwartet werden.
Diese Position der Stärke wird von den russischen Kriegs-Influencern und Bots auf allen Kanälen rauf- und runtergebetet. An der grossen Mai-Parade in Moskau zum 80. Tag des Sieges fiel auf, wie Putin besonderen Wert darauf legte, Kolonnen von scheinbar fabrikneuen T-90- und T-80-Kampfpanzern vorzuführen, nachdem in den Vorjahren am 9. Mai bloss spärlich schweres Kriegsgerät über den Roten Platz gedonnert war.
Prompt tauchten auf Social-Media-Plattformen massenhaft Bilder der Parade als Gegenbeweis zur westlichen These der inzwischen geleerten russischen Panzerdepots auf. Putins Chefpropagandist Wladimir Solowjow, nie um Eskalationsrhetorik verlegen, fragte am Tag vor Istanbul in seiner Radio-Show «Vollkontakt»: «Ein Waffenstillstand – wozu? Ein Friedensschluss – wozu?»
Die Einschätzung, die Putin-Versteher nicht hören wollen
Willfährige Opfer der russischen Propaganda
Die russische Erzählung der eigenen Stärke wird jetzt aber zunehmend infrage gestellt. Der deutsche Generalmajor Christian Freuding stellte kürzlich in einem Interview fest: «Putin kann diesen Krieg militärisch nicht mehr gewinnen.»
Der Leiter Sonderstab Ukraine der deutschen Bundeswehr begründete dies zum einen mit dem seit Monaten vorherrschenden Stillstand an den Fronten. Zum anderen mit dem Erwachen der europäischen Rüstungsindustrie, die «nachhaltiger» als die staatlich gelenkte russische Kriegswirtschaft produzieren könne.
Noch deutlicher wird Marcus Keupp, Dozent für Militärökonomie an der ETH Zürich. Mit seinem jüngsten ZDF-Interview sorgte er weitherum für Aufsehen, indem er dazu aufrief, endlich nicht mehr «den Märchenerzählungen über Russland» zu glauben und willfähriges Opfer der russischen Propaganda zu werden.
Bei X kommentierte der Sicherheitsexperte:
Das verbreitete Bild von der grössten, unbesiegbaren Armee der Welt sei ebenso falsch wie jenes des endlos grossen Riesenreiches mit den unbegrenzten Ressourcen. Keupp hebt insbesondere folgende Gegenargumente hervor:
- Ökonomisch ist Russland ein «Scheinriese»: Die durchaus wirksamen Sanktionen des Westens und der zunehmende Fachkräftemangel behindern Putins strukturschwache Kriegswirtschaft zusätzlich. Russlands Bruttoinlandprodukt ist geringer als dasjenige von Italien oder Texas. Die russische Produktivkraft beruht im Wesentlichen auf dem Import westlicher beziehungsweise chinesischer Technologie. Die von Putin angestrebte Importsubstitution ist weitgehend gescheitert, da sich Russlands Industrie dazu ausserstande sah.
- Durch die massenhafte Produktion von bis zu 2 Millionen Billig-Drohnen jährlich hat die Ukraine eine wichtige zusätzliche militärische Fähigkeit erlangt. Wegen der hohen Verluste hat die russische Führung der Armee inzwischen verboten, in Frontnähe Transportfahrzeuge ohne elektronische Abwehrmassnahmen einzusetzen. Mechanisierte Angriffsbewegungen sind deswegen an wichtigen Frontabschnitten fast zum Ding der Unmöglichkeit geworden. Die wiederholte Schliessung russischer Zivilflughäfen wegen ukrainischer Drohneneinsätze offenbart zudem die Schwäche der russischen Luftverteidigung.
- Schliesslich steckt Putins Armee in der Ukraine in einer «ideologischen Sackgasse». Trotz horrender Verluste bei nur geringen Gebietsgewinnen halten Russlands Generäle an den bisherigen Angriffstaktiken fest. Die immer gleichen Angriffsbefehle werden stur und ohne Hinterfragen von oben nach unten durchgereicht – was zur Verschwendung von Material und Menschenleben führt.
Im März vor zwei Jahren äusserte Keupp die Einschätzung, dass Russland bis zum Herbst 2023 den Ukraine-Krieg strategisch verloren haben wird. Dies trug dem ETH-Dozenten damals viel öffentliche Kritik ein.
In der Folge argumentierte er, der ausbleibende Sieg der Ukraine liege an der zu geringen Unterstützung durch den Westen. Am 30. Mai wird Marcus Keupp die These vom propagandistisch aufgeblasenen Putin-Reich in seinem neuen Buch «Spurwechsel – die neue Weltordnung nach Russlands Krieg» im Detail darlegen.
(aargauerzeitung.ch)


