Als «Stunde X» bezeichnet die Moderatorin des russischen Staatsfernsehens «Erster Kanal» das Treffen zwischen Russland und der Ukraine in Istanbul. Die Journalisten warten da Stunden in der Sonne vor dem Dolmabahce-Palast, der einstigen Residenz der Sultane im Osmanischen Reich. Sie sehen streunende Katzen und Hunderte von Fernsehkameras aus aller Welt. Was sie nicht sehen: ukrainische und russische Delegationen. Es ist ein Tag, der gut zeigt, welch Sprachlosigkeit zwischen den beiden Ländern längst herrscht. Es fehlt an Worten, an Zeitplänen, es fehlt an allem.
Russlands Präsident Wladimir Putin war – wenig überraschend – ohnehin in Moskau geblieben und schickte Verhandler aus dritter Reihe. Der ukrainische Präsident Wolodimir Selenskyj hatte sich derweil in Ankara mit seinem türkischen Amtskollegen Recep Tayyip Erdogan getroffen und erklärte in einer abendlichen Pressekonferenz, dass trotz allem der ukrainische Verteidigungsminister Rustem Umarow die ukrainische Delegation anführen solle. Die Gespräche sollten noch am Donnerstagabend oder am Freitag beginnen.
Dabei soll es, so Selenskyj, um das Aushandeln einer Waffenruhe gehen. Der russische Delegationsführer Wladimir Medinski, ein glühender Stalin-Verehrer, las am Abend von seinem Zettel ab, Russland gehe es um einen «langfristigen Frieden», für den erst die «Grundursachen des Konflikts» beseitigt werden müssten. Es sind Worthülsen, mit denen Russland seine stetige «Verhandlungsbereitschaft» versinnbildlicht. Doch «Verhandlungsbereitschaft» allein macht noch keine Verhandlungen aus.
Selenski bezeichnete die russische Delegation als «Täuschungsmanöver». Die Sprecherin des russischen Aussenministeriums, Maria Sacharowa, nannte ihn daraufhin einen «Clown» und «Versager». Putin werde, so bekräftigt es der Kremlsprecher Dmitri Peskow am Donnerstag, «definitiv» nicht nach Istanbul reisen. «Es gibt keinen politischen Willen im Kreml, diesen Krieg zu beenden», sagt Selenski in Ankara.
Als Putin in der Nacht zu Sonntag mit seinem «Wurf» kam, direkte Verhandlungen mit der Ukraine führen zu wollen, war bereits klar, dass das für ihn nichts Neues darstellt. Er bezeichnete sie als «Wiederaufnahme der Gespräche von Istanbul vom Frühjahr 2022». Diese seien damals vom Westen, so die russische Sichtweise, «unterbrochen» worden. Dabei sei ein Abkommen bereits klar und unterschriftsreif gewesen. Auch das ist ein russischer Mythos und längst widerlegt.
Klar war da nichts. Klar ist auch heute nur so viel: Russland ist an einem Frieden, wie er für die Menschen in der Ukraine – und auch für Europa – annehmbar wäre, nicht interessiert. Moskau sucht nicht nach Kompromissen, Moskau will mit aller Macht seine Interessen durchsetzen. Auch mit Bomben und Raketen, wie es in der Ukraine unmissverständlich seit mehr als drei Jahren zeigt.
Putin spricht gern von Frieden, solange seine Armee weiter angreifen kann. Deshalb letztlich auch seine Absage an eine 30-tägige Waffenruhe. Russlands Kriegsherr will die Unterwerfung der Ukraine, er will eine Neuordnung der europäischen Sicherheit, er will das, was er als «Entnazifizierung» und «Demilitarisierung» der Ukraine bezeichnete, bevor er am 24. Februar 2022 seine Panzer gegen das Nachbarland in Bewegung setzen liess. Daran hat sich seitdem so gut wie nichts geändert.
Die Menschen aber dürstet es nach Hoffnung. Endlich Frieden, endlich weg mit diesen negativen Nachrichten. Endlich Verhandlungen! Nun biete Putin doch Gespräche an, Verhandlungen seien besser, als nicht zu verhandeln, freuen sich da viele, die offensichtlich nicht bereit sind, zu sehen, mit welchen Tricks der einstige Geheimdienstmann arbeitet.
Mit dieser «Bereitschaft» buhlt er vor allem um die Aufmerksamkeit des amerikanischen Präsidenten Donald Trump, der den Krieg loshaben will, um sich und der Welt zu zeigen, was für ein toller «Dealmaker» er doch sei. Um die Ursachen und die Verantwortung für Leid und Zerstörung geht es ihm dabei nicht. So führt Putin die Amerikaner an der Nase herum und streicht Zugeständnisse für sich ein.
Warum also hätte Putin nach Istanbul fahren sollen? Warum dem «illegitimen Präsidenten eines nicht existierenden Landes», einem «Nazi und Junkie, der seine Hände im Blut badet», wie der Kremlherrscher den frei gewählten ukrainischen Präsidenten bezeichnet, die Hand entgegenstrecken sollen? Zumal nichts Ausgearbeitetes vorliegt.
Das ist in erster Linie die Arbeit von Diplomaten im Vorfeld, bevor die Staatenlenker irgendwo eine Unterschrift daruntersetzen. Etwaige Abkommen müssten gut vorbereitet werden, sie müssten letztlich auch von den Parlamenten der Länder ratifiziert werden – und auch vom UNO-Sicherheitsrat, um als völkerrechtlich verbindlicher Vertrag zu gelten.
Die Position Russlands sei «allseits bekannt und logisch», hatte Putins Verhandler Medinski bereits vor drei Jahren in Istanbul gesagt. Das wird er auch in diesen Tagen wiederholen. Seine Streitkräfte müsste Kiew reduzieren, auf die von Russland eroberten Gebiete verzichten, der Nato für immer abschwören und die verfassungsmässige Ordnung zugunsten Russlands ändern. Letztlich müsste die Ukraine ihre Kapitulation unterschreiben. Es ist ein unmögliches Unterfangen. (aargauerzeitung.ch)