«Wo ist dein Anzug?», musste sich der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj vor zwei Wochen in Washington anhören, bevor das Gespräch mit seinem amerikanischen Amtskollegen Donald Trump im Oval Office vollends eskalierte. Selenskyj verzichtet auf Anzüge, seit Russlands Präsident Wladimir Putin am 24. Februar 2022 seinen verheerenden Marschbefehl zur «militärischen Spezialoperation» gegen die Ukraine gab. Die SWO, wie die russische Abkürzung für den Euphemismus von Russlands Krieg gegen das Nachbarland bis heute lautet, ist zum Sinn des Lebens und des Überlebens des russischen Regimes geworden.
Und siehe da, auch Putin legt seinen Anzug plötzlich ab und zeigt sich in Camouflage. Ein Statement, so kurz, nachdem die USA und die Ukraine bei den Gesprächen in Dschidda in Saudi-Arabien verkündet hatten, sie hätten sich auf eine 30-tägige Waffenruhe entlang der gesamten Frontlinie geeinigt. Nur: Wo genau verläuft diese Linie? Wer schützt sie? Unklar.
«Wir sind im Krieg», zeigt Putin durch seine Kleiderwahl. Wenn er sich früher über die Karten der Kampfhandlungen beugte, wenn er die Sitzungen im Generalstab leitete, wenn er seinen Soldatenhelden die Hände schüttelte und die Mütter dieser Soldatenhelden umarmte, trug er stets Anzug. Er spielte den Staatsmann und liess seine Propagandisten sich über Selenskyj im «olivfarbenen Leibchen» lustig machen. Nun wählt er selbst Uniform, während die Welt fast schon schnappatmungsartig auf die «brisanten» Nachrichten aus Moskau wartet. Wird er nun zusagen? Bedingungen stellen? Kann er es sich leisten, die Amerikaner zu verprellen?
«Atmet aus», scheint Putin zu rufen, während er von seinen Generälen durch die Gänge des Kommandopostens der Kursker Gruppierung läuft und sich vom russischen Staatsfernsehen filmen lässt. Da ist er zum ersten Mal in dieser Region, seit die Ukrainer Teile des russischen Territoriums besetzt halten. Auch das ist ein klares Zeichen in Zeiten der russischen Rückeroberung bei Kursk. Moskau sieht sich in der Position der Stärke, sieht sich auf dem Weg zum Sieg. Gerade jetzt wird es nicht klein beigeben und sich auf Vereinbarungen einlassen, von denen es seit Monaten aus Moskau heisst: «Waffenruhe ist inakzeptabel, leeres Geschwätz, ein Trick für eine Verschnaufpause der Ukrainer.»
Erst vor kurzem hatte Putin gesagt, Russland hätten nur wenige Monate bis zum Sieg im Ersten Weltkrieg gefehlt. Das mag nur einer der Putin'schen Träume gewesen sein, die er als Wahrheit zu verkaufen weiss. Viel wichtiger ist die Botschaft: «Wir müssen durchhalten bis zum Sieg, wir dürfen nicht die Fehler von früher wiederholen.» Und er wird durchhalten. Ganz Russland wird durchhalten, weil das Regime Putin alles unter seine Kontrolle gebracht hat. «Den Sieg lassen wir uns nicht klauen», schreien die Propagandisten.
Zurück in der Hauptstadt und wieder im Anzug sagte Putin: Natürlich sei eine Waffenruhe eine «gute Idee, aber»: Moskau brauche keinen kurzfristigen Waffenstillstand, Moskau brauche einen langfristigen Frieden.
Der Kreml ist geübt darin, Worten neue Bedeutungen zu verleihen. Der US-Aussenminister Marco Rubio sprach davon, dass der Ball nun auf der russischen Seite liege, während Donald Trump den Ukrainern vorwarf, sie hätten keine Karten. Kiew spielt weder Karten noch Fussball, Kiew kämpft um sein Land. Moskau spielt weiter sein Verwirrspiel. Russland dreht so lange an der Realität herum, bis eine neue Realität entstanden ist und keiner mehr weiss, was nun die Wirklichkeit ist.
Fakten spielen da keine Rolle, nur Thesen und Theorien. Und die These, die Russland – mit grossem Erfolg, auch im Westen – seit Jahren bespielt: Die Ukraine sei von Faschisten besetzt, deshalb müsse Russland das Land entnazifizieren und demilitarisieren. Es wolle schliesslich nur Frieden und gute Beziehungen zu allen.
Dass unter «Entnazifizierung» die völlige Demontage der Führung in Kiew bedeutet und eine durchgängige Kontrolle durch Russland, dass unter «Frieden» Bedingungen fallen, die eine Kapitulation der Ukraine und eine komplett neue Sicherheitsarchitektur in Europa verlangen, wonach Russland, die USA und China die Welt in Einflusssphären unterteilen, wird dabei nicht mehr erwähnt. Zurück bleibt nur «Frieden».
So können sich die Moskauer Imperialisten als Friedensengel inszenieren, immer und immer wieder ihre «einfachen Bedingungen» wiederholen – von der völkerrechtlichen Anerkennung der besetzten Gebiete in der Ukraine über die ewigliche Absage der Ukraine an einen Nato-Beitritt bis hin zur vollständigen Rücknahme der westlichen Sanktionen gegen Russland – und die Verantwortung am nicht endenden Krieg der Ukraine zuweisen. Denn wir erinnern uns: Russland sei ja schliesslich an einem «langfristigen Frieden» interessiert. «Langfristig» meint eine Ukraine unter russischer Kontrolle.
Putins Worte in Moskau sind ein «Jein», eine aufgeschobene Zustimmung Russlands, bis das verbrecherische Regime das bekommt, was es verlangt. Der Ball, von dem Rubio sprach, liegt also nicht auf russischer Seite, er ist längst zurück auf der Seite der USA. (aargauerzeitung.ch)