International
Russland

AKW Saporischschja: Droht nun die Kernschmelze?

AKW Saporischschja: Wie wahrscheinlich ist die Kernschmelze?

Die Lage im AKW Saporischschja verschärft sich dramatisch: Erstmals in der Geschichte wurde die Anlage vom Netz getrennt. Wie wahrscheinlich ist der GAU?
25.08.2022, 22:4126.08.2022, 10:44
Sonja Eichert, Liesa Wölm / t-online
Mehr «International»
Ein Artikel von
t-online

Die Warnungen überschlugen sich: «Nukleare Erpressung» betreibe Russland mit dem Atomkraftwerk Saporischschja, so der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj am Mittwoch im UN-Sicherheitsrat. «Jede weitere Eskalation der Situation könnte zu Selbstzerstörung führen», warnte auch UN-Generalsekretär António Guterres.

FILE - A Russian serviceman guards an area of the Zaporizhzhia Nuclear Power Station in territory under Russian military control, southeastern Ukraine, May 1, 2022. Moscow and Kyiv have traded accusat ...
Ein russischer Soldat vor dem AKW Saporischschja. Bild: keystone

Nun scheint eine weitere Eskalationsstufe eingetreten zu sein.

Das AKW sei komplett vom Stromnetz genommen worden, gab der ukrainische Betreiber Energoatom am Donnerstagnachmittag bekannt – «erstmals in der Geschichte des Kraftwerks». Es habe nach «feindlichem Beschuss» durch die russische Armee Brandschäden an den Stromleitungen gegeben. Das Sicherheitssystem funktioniere jedoch. Das russische Verteidigungsministerium hingegen macht die Ukraine für Angriffe verantwortlich.

Atomkraftwerk als «Schutzschild»

Zuvor war es in der gesamten russisch besetzten Region Saporischschja zu einem Stromausfall gekommen. «Heute ist die Stadt infolge feindlichen Beschusses komplett ohne Strom und Wasser», teilte der in den ukrainisch kontrollierten Landesteil geflohene Bürgermeister von Enerhodar, Dmytro Orlow, mit. In der Stadt südlich des Flusses Dnipro befindet sich das Atomkraftwerk – mit sechs Reaktoren das grösste in Europa. Vor dem Krieg machte es ein Fünftel der ukrainischen Stromversorgung aus.

Anfang März, nur wenige Tage nach dem russischen Einmarsch in die Ukraine, hatten Kreml-Truppen das AKW unter ihre Gewalt gebracht. Das Kraftwerk wird weiterhin von ukrainischen Angestellten betrieben, etliche sollen jedoch geflohen sein. Auf dem Gelände sollen die russischen Truppen unter anderem Raketenwerfer stationiert haben – wohl aus Kalkül, um dort vor ukrainischen Angriffen sicher zu sein. Russland benutze das AKW als «militärischen Schutzschild», so der Vorwurf aus Kiew.

Seit Anfang August kommt es regelmässig zu Beschuss in der Anlage. Kiew und Moskau beschuldigen sich gegenseitig. Raketeneinschläge sorgten immer wieder für Schäden und Brände, bisher wurden jedoch keine kritischen Einrichtungen getroffen. Aufgrund der anhaltenden Kampfhandlungen waren international in den vergangenen Wochen Sorgen vor einer Atomkatastrophe geäussert worden.

Das AKW Saporischschja liegt direkt an der Frontlinie.
Das AKW Saporischschja liegt direkt an der Frontlinie.Heike Aßmann / t-online

Ukraine warnte vor Unterbrechung der Stromversorgung

Eine Unterbrechung der Stromversorgung war dabei als eines der Gefährdungsszenarien gehandelt worden. Der Verdacht in Kiew: Russland wolle das AKW an das Stromnetz der russisch besetzten Regionen anschliessen. Präsident Selenskyj sagte noch am vergangenen Freitag, Moskau plane eine «gross angelegte Provokation» am Kraftwerk, um eine Abkopplung vom ukrainischen Stromnetz zu rechtfertigen und es an das russische anzuschliessen.

Auch von der Betriebergesellschaft Energoatom kamen derartige Vorwürfe: In einem Interview mit dem britischen «Guardian» sagte der Energoatom-Präsident Petro Kotin am Mittwoch, die russischen Besatzer hätten einen detaillierten Plan ausgearbeitet, um in Falle einer Beschädigung der ukrainischen Stromleitungen das AKW an das russische Netz zu bringen. Von den ursprünglich vier regulären Leitungen seien drei bereits zerstört. Auch zwei der drei Ersatzleitungen zu einem Wärmekraftwerk seien beschädigt. Die eine verbleibende sichert nach Angaben von Energoatom aktuell die Stromversorgung des AKW.

Gegenüber der BBC äusserte sich Mitte August ein namentlich nicht genannter ukrainischer Ingenieur des AKW ähnlich: Die russischen Besatzer würden die unterbrochene Stromversorgung ausnutzen wollen, um einen Anschluss an die Leitung in Richtung der Stadt Dschankoj zu erzwingen – und damit auf die besetzte Krim. «Die Russen arrangieren extra einen Blackout, damit sie uns später 'helfen' können.»

Experte: Keine unmittelbare Gefahr

Das Problem: Zur Kühlung der Brennstäbe in den Reaktoren wird Strom benötigt. Solange die externe Versorgung durch das Wärmekraftwerk gesichert ist, bestehe keine unmittelbare Gefahr, erklärt Sebastian Stransky von der Gesellschaft für Anlagen- und Reaktorsicherheit zu t-online. «Das AKW muss nun aber so schnell wie möglich versuchen, einen der ausgefallenen Reaktorblöcke wieder hochzufahren, um die Versorgung sicherzustellen», so Stransky. Dann kann sich das Kraftwerk selbst mit Strom zur Kühlung versorgen.

Ernergoatom bestätigte entsprechende Versuche. Dem russischen Besatzungschef der Region, Jewgeni Balizki, zufolge, war dies am Nachmittag bereits gelungen.

Sebastian Stransky ist Abteilungsleiter bei der Gesellschaft für Anlagen- und Reaktorsicherheit (GRS) mit Sitz in Berlin. Er ist Diplomingenieur (TU) für Kernenergietechnik und Sicherheitsingenieur.

Sollte die Stromversorgung hingegen komplett ausfallen, käme es auf die Versorgung durch Dieselgeneratoren an – nach Angaben von Energoatom waren die russischen Besatzer des AKW in den vergangenen Tagen auf der Suche nach Treibstofflieferanten. Auch Experte Stransky sagt: «Dramatisch wird es erst, wenn die Notstromversorgung nicht an jeden Block funktioniert.»

20 Aggregate gibt es in Saporischschja für die sechs Reaktoren, von denen bis zum Mittag noch zwei aktiv waren. Diese sind für einen Betrieb über sieben bis zehn Tage ausgelegt – doch unter den aktuellen Bedingungen gibt es Zweifel an der Zuverlässigkeit des Systems.

GAU wäre mit Fukushima vergleichbar

Versagen die Generatoren, würden die Brennstäbe bereits nach 90 Minuten gefährlich hohe Temperaturen erreichen – samt Kernschmelze, erklärte Energoatom-Präsident Kotin dem «Guardian». Normalerweise erzeugen die Brennstäbe Hitze, welche von einem ersten Wasserkreislauf im Reaktor aufgenommen wird. Über Rohre wird die Wärme in einen zweiten Wasserkreislauf abgeleitet, es wird Dampf erzeugt. Dieser treibt eine Turbine an, die wiederum den Strom erzeugt. Auch Reaktoren, die nicht aktiv Strom erzeugen, müssen weiter gekühlt werden.

Bild
Bild: t-online

Kommt es zur Kernschmelze, kommt das Kühlwasser nicht in Kontakt zur Aussenwelt – eigentlich. Denn bricht die Stromversorgung des AKW zusammen, und damit auch die Kühlversorgung, entsteht im Reaktor ein Überdruck. Kann dieser nicht über Ventile abgelassen werden, könnten die Reaktoren zerstört werden.

Dann droht ein Szenario wie in Fukushima.

Experten gehen davon aus, dass in diesem Fall das Land in einigen hundert Kilometern Umkreis unbewohnbar werden würde. Die Ausdehnung hängt auch von der Windrichtung ab – bei dem häufig herrschendem Ostwind konnte die Radioaktivität nach Russland und Kasachstan getragen werden, bei anderer Windrichtung wäre auch ein Herüberwehen nach Mittel- und Westeuropa möglich. Sebastian Stransky beruhigt jedoch: «Derzeit gibt es keinen Grund, den Eintritt eines Wort Case zu unterstellen.» Noch habe das Kraftwerk die Sicherheitseinrichtungen zur Notstromversorgung.

Verwendete Quellen:

((sje,lw ))

DANKE FÜR DIE ♥
Würdest du gerne watson und unseren Journalismus unterstützen? Mehr erfahren
(Du wirst umgeleitet, um die Zahlung abzuschliessen.)
5 CHF
15 CHF
25 CHF
Anderer
Oder unterstütze uns per Banküberweisung.
23 Bilder, die Russlands Militärparade auf den Punkt bringen
1 / 25
23 Bilder, die Russlands Militärparade auf den Punkt bringen
Russland begeht am 9. Mai mit dem «Tag des Sieges» über Nazi-Deutschland seinen wichtigsten Feiertag.
quelle: imago-images
Auf Facebook teilenAuf X teilen
Peinlich: Russlands Roboter-Hund ist eigentlich von AliExpress
Video: watson
Das könnte dich auch noch interessieren:
Hast du technische Probleme?
Wir sind nur eine E-Mail entfernt. Schreib uns dein Problem einfach auf support@watson.ch und wir melden uns schnellstmöglich bei dir.
65 Kommentare
Weil wir die Kommentar-Debatten weiterhin persönlich moderieren möchten, sehen wir uns gezwungen, die Kommentarfunktion 24 Stunden nach Publikation einer Story zu schliessen. Vielen Dank für dein Verständnis!
Die beliebtesten Kommentare
avatar
Waldorf
25.08.2022 22:55registriert Juli 2021
Könnt ihr mal das mit diesen headlines sein lassen? Bitte!
24713
Melden
Zum Kommentar
avatar
Reirap
25.08.2022 23:06registriert August 2022
Für diejenigen, die sich – wie ich – von dem leider viel zu reisserischen Titel erschrecken liessen, aber keine Lust haben, den ganzen Artikel zu lesen, hier die letzten zwei Sätze zur Beruhigung:
«Derzeit gibt es keinen Grund, den Eintritt eines Wort Case zu unterstellen.» Noch habe das Kraftwerk die Sicherheitseinrichtungen zur Notstromversorgung.
15110
Melden
Zum Kommentar
avatar
Liebu
25.08.2022 23:07registriert Oktober 2020
bei dem häufig herrschendem Ostwind konnte die Radioaktivität nach Russland und Kasachstan getragen werden

Bei Ostwind kommt der Wind von dort und weht Richtung Europa. Bei Westwind bläst es Richtung Osten.
1228
Melden
Zum Kommentar
65
Gefängnis Saidnaya – Assads «Schlachthaus für Menschen»
Das Gefängnis Saidnaya ist bekannt für systematische Folter und aussergerichtliche Hinrichtungen. In der Vergangenheit kamen zwar Details über die Folteranstalt ans Tageslicht. Doch vieles blieb im Dunkeln. Bis jetzt.

Ausgezehrte Inhaftierte strömen fassungslos aus der Haftanstalt Saidnaya bei Damaskus. Einige von ihnen wissen weder ihren Namen noch woher sie stammen. Jemand glaubt, er sei von Saddam Hussein befreit worden – so lange war er von der Aussenwelt abgeschottet.

Zur Story