Eigentlich sind Rot und Weiss die Nationalfarben von Lettland. Doch in diesen Tagen versinkt Riga, die Hauptstadt des mittleren der drei baltischen Staaten, in Blau und Gelb. Boutiquen haben blau-gelbe Strickmützen und Foulards in der Auslage, an jeder zweiten Hausfassade hängen ukrainische Flaggen.
Vor dem Präsidentenpalast am Ufer der breiten Düna wehen gleich drei grosse Ukraine-Fahnen im kalten Aprilwind. Die Solidarität mit dem kriegsversehrten Land ist riesig. Lange genug hat Lettland unter den russischen Besatzern gelitten.
Egils Levits, seit 2019 Präsident der Zwei-Millionen-Nation, wurde in den 1970er-Jahren selber mit seiner Familie aus der damaligen Lettischen Sozialistischen Sowjetrepublik vertrieben. Levits, 66, graues Haar, ernster Blick, tiefe Stimme, setzt sich an den runden Holztisch in seinem riesigen Büro. Draussen vor dem Fenster kreisen die Möwen über der Stadt. Drinnen kreisen die Gedanken um die russische Gefahr.
Herr Präsident, in Butscha und anderen ukrainischen Städten massakrierten Putins Soldaten Hunderte Zivilisten. Wie sollte der Westen auf diese Kriegsverbrechen reagieren?
Egils Levits: Die schrecklichen Szenen aus Butscha und anderen Orten um Kiew von ukrainischen Zivilisten, die von Putins Armee ermordet wurden, machen Lettland noch entschlossener, Russland vor Gericht zu bringen. Diese Kriegsverbrechen werden bestraft. Früher oder später. Für Kompromisse und Unentschlossenheit bleibt kein Platz. Es gibt nur Weiss und Schwarz, es gibt nur Gut gegen Böse, Rechtschaffen gegen Verbrecher. Diejenigen, die meinen, es sei schwierig zu sagen, wer recht hat, unterstützen den Aggressor und das kriminelle Regime.
Sie wurden in der Sowjetunion geboren und als Jugendlicher mitsamt Ihrer Familie selbst von einem kriminellen Regime vertrieben. Was lösen die Bilder aus der Ukraine in Ihnen aus?
Leider gibt es auch in Europa immer wieder Situationen, in denen man die Heimat wegen eines Angriffs oder eines menschenfeindlichen Regimes verlassen muss. Die Demokratie, in der wir leben, und die uns selbstverständlich erscheint, ist nicht selbstverständlich.
Wie die Ukraine grenzt auch Lettland an Russland. Wie realistisch ist ein russischer Angriff auf Ihr Land?
Nicht sehr realistisch. Wir sind Mitglied der Nato, das ist der Unterschied zur Ukraine. Die Aufgabe der Nato ist es, das Territorium aller Mitgliedsstaaten zu verteidigen. Dazu hat das Verteidigungsbündnis die entsprechenden Mittel. Deshalb fühlen wir uns nicht unmittelbar bedroht. Durch den russischen Angriff auf einen demokratischen europäischen Staat fühlen wir als Europäer aber eine Verpflichtung, der Ukraine zu helfen.
Sollte die Nato die Ukraine jetzt aufnehmen?
Das Wichtigste im Moment ist die massive militärische Hilfe für die Ukraine. Die Ukraine ist gewillt und fähig, sich zu verteidigen. Aber sie braucht Waffen. Lettland, Estland und Litauen gehören zu denjenigen Staaten, die prozentual einen sehr hohen Beitrag zur militärischen Stärkung der Ukraine leisten. Auch andere Staaten wie die USA, Grossbritannien oder auch teilweise Frankreich liefern sehr beträchtliche Waffen zur Stärkung der Verteidigungskraft der Ukraine.
Sind Sie sicher, dass die Nato einen Krieg mit der Nuklearmacht Russland eingehen würde, um das Baltikum zu verteidigen?
Die Nato ist ökonomisch und militärisch um ein Vielfaches stärker als Russland. Ein Angriff auf ein Nato-Mitglied würde mit einer Katastrophe für Russland enden. Russland kann nicht mit einem Sieg rechnen.
Aber Russland hat Atomwaffen.
Ja, aber auch der Einsatz von Atomwaffen würde für Russland katastrophal enden. Russland wird nicht durch eine starke Nato provoziert, sondern durch eine schwache. Die Schwäche provoziert Russland. Stärke hält Russland in seinen Grenzen. Es gibt Teile der westlichen Gesellschaft, die meinen, mit guten Worten und Beschwichtigungen könnte man irgendetwas erreichen. Das ist ein absoluter Irrtum. Nur durch politische und militärische Stärke gegenüber Russland wird Frieden in Europa garantiert. Beschwichtigung bedeutet Krieg, politische und militärische Stärke ist der Schlüssel für den Frieden.
Lettland wäre ohne die Nato chancenlos. Ihre Armee hat 6000 Soldaten, keine Kampfjets und im Gegensatz zu den Nachbarländern keine Wehrpflicht. Ist das trotz Nato-Mitgliedschaft nicht fahrlässig in der heutigen Zeit?
Wir haben unsere Kampfkraft in den letzten Jahren sehr gestärkt. Gerade erst haben wir beschlossen, den Verteidigungsetat auf 2.5 Prozent des Bruttoinlandsprodukts zu erhöhen. Die Nato fordert 2 Prozent. Nur ein Drittel der 30 Mitgliedsländer erfüllt dieses Ziel, wir gehören seit Jahren dazu. Wir haben eine sehr professionelle Truppe und sind auch an internationalen Missionen beteiligt. Unsere Verbündeten in der Nato schätzen die Professionalität unserer Armee. Wir haben ein kombiniertes System aus professionellen Streitkräften und einer Nationalgarde, das sind Leute, die einen Monat im Jahr Dienst tun. Ich glaube, in der Schweiz haben Sie ein Ähnliches System ...
... die Wiederholungskurse gehen bis Mitte 30.
... bei uns bis 55. Auf diese Art kann man mobilisieren. Die Kombination ist sehr effektiv.
Was müsste in der Ukraine geschehen, damit die Nato eingreift und mehr tut, als Waffen zu liefern?
Das Wichtigste ist, dass Russland am Ende nicht gewinnt. Denn das würde das nächste Abenteuer provozieren.
Welches?
Denkbar ist ein Vorgehen gegen andere Länder. Für die Staaten, die nicht in der Nato sind, ist das noch problematischer. Nach der Wende 1989/90 hatten wir euphorisch angenommen, dass die Demokratie auf der ganzen Welt siegt. Das ist nicht eingetroffen. Wir sehen, dass die Realität anders ist. Die westlichen Gesellschaften – nicht die Balten – waren etwas naiv.
Hält diese Naivität bis heute an? Müsste sich Westeuropa noch mehr einsetzen?
Man darf nicht übersehen, dass da ein aggressiver autokratischer Staat die Demokratien angreift, die Demokratie auch als Staats- und Lebensform. Russland fühlt sich herausgefordert durch die demokratische Ukraine, denn die Menschen in Russland können sich mit den Ukrainern vergleichen. Das ist der eigentliche Grund für den Krieg. Deshalb müssen wir mit den Demokratien der Welt solidarisch sein. Um unserer eigenen Sicherheit Willen.
Es ist zu befürchten, dass Putin in der Ukraine noch brutaler vorgeht. An welchem Punkt würden Sie als Präsident des Nato-Landes Lettland sagen, dass die Nato eingreifen muss? Beim Einsatz von Giftgas? Oder wenn noch mehr Zivilisten getötet werden?
Wir müssen unsere militärische Hilfe an die Ukraine weiter steigern. In den ersten Wochen wurde öffentlich darüber informiert, was die einzelnen Staaten alles schicken. Das ist nicht besonders klug. Wir müssen Waffen schicken, ohne das sofort bekanntzugeben. Und das passiert jetzt, das kann ich versichern.
Hinter den Kulissen läuft demnach mehr, als man denkt?
Ja, und man muss das nicht alles in der Zeitung annoncieren. Die militärische Hilfe wird verstärkt. Der Mythos der militärischen Stärke Russlands ist zerpflückt. Russland kommt militärisch nicht voran. Darum hat es mit den Terror-Bombardierungen begonnen.
Es gibt also keine «rote Linie» bei der Sie sagen: Jetzt muss die Nato eingreifen.
Die Situation wird ständig neu evaluiert. Es ist taktisch nicht gerade klug zu sagen, ab dieser Linie greifen wir ein. Denn dann würde Russland das wissen.
Sie halten es tatsächlich für möglich, dass die Nato in der Ukraine gegen Russland kämpft?
Alle Optionen werden ständig abgewogen. Wenn sich die Situation radikal ändert, müssen wir natürlich auch unsere Strategie ändern. Das Wichtigste ist und bleibt die militärische Hilfe. Die Ukraine kann sich verteidigen, aber sie braucht Waffen. Die ukrainischen Streitkräfte zeigen, dass sie effektiv und kampfbereit sind. Sie führen diesen Verteidigungskrieg taktisch und strategisch sehr gut. Eine solche Erfahrung hat keine westeuropäische Armee. Rein theoretisch würde der Beitritt der Ukraine zu einer bedeutenden Stärkung der Nato führen.
In der «Washington Post» forderten Sie jüngst ein Sondertribunal nach dem Vorbild der Nürnberger Prozesse. Wie würde ein solcher Prozess laufen?
Ich denke da an eine Ergänzung zum Internationalen Strafgerichtshof in Den Haag. Der wurde gegründet, um Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit von einzelnen Personen zu untersuchen. Das Problem ist – so erstaunlich das tönen mag: Ein Angriffskrieg ist zwar laut der UNO-Charta verboten und stellt einen klaren Verstoss gegen das Völkerrecht dar. Ein internationales Gericht, das Angriffskriege untersucht, gibt es aber nicht. Da besteht eine Lücke.
Das heisst: Putin ist juristisch gesehen gar kein Kriegsverbrecher?
Putin und seine Truppen begehen während dieses Krieges mit grosser Wahrscheinlichkeit Kriegsverbrechen. Der Chefankläger des Internationalen Strafgerichtshofs hat Ermittlungen aufgenommen. Wir unterstützen ihn dabei. Aber: Auf internationaler Ebene fehlt ein Gerichtshof, der den Angriffskrieg an sich zum Gegenstand hat.
Putin hat also nichts zu fürchten?
Doch. Man könnte ein Sondertribunal einsetzen, wie man das etwa zur Aufarbeitung der Kriegsverbrechen im Jugoslawien-Krieg gemacht hat. Ein solches Gericht könnte auch den russischen Angriff auf die Ukraine untersuchen.
Sie waren Justizminister und dann jahrelang Richter am Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte. Sie wären der ideale Richter für das Sondertribunal gegen Putin.
Aktuell bin ich Präsident von Lettland. Aber die Idee für ein solches Sondertribunal wird von zahlreichen Politikern (zum Beispiel vom ehemaligen britischen Premier Gordon Brown) und internationalen Juristen unterstützt. Damit ein solches Sondertribunal zu Stande kommt, müssten ihn aber auch zahlreiche Staaten oder Institutionen wie der Europarat fordern.
Und wenn das Sondertribunal zustande kommt, dann sagen Sie zu? Auch Carla del Ponte, die frühere Schweizer Chefanklägerin am Strafgerichtshof für Ruanda, hat einst ihren Ruhestand unterbrochen, um Menschenrechtsverbrechen in Syrien zu untersuchen.
Diese Frage kann ich jetzt nicht beantworten.
Noch tobt der Krieg in der Ukraine. Einige Staatschefs haben bereits deutliche Worte gefunden. Was ist Ihre Botschaft an Putin?
Stopp den Krieg! Zieh die russische Armee nach Russland zurück! Das ist die einzige Botschaft, die ich für ihn habe.
Sie reisen in der kommenden Woche in die Schweiz. Die Schweiz geht nicht auf Kiews Wünsche ein und liefert weder Schutzwesten noch Helme in die Ukraine. Tut das Land zu wenig?
Die Schweiz tut bereits einiges: Sie hat sich den Sanktionen angeschlossen. Das ist wichtig, weil die russischen Oligarchen in der Schweiz ihr Geld verstecken. Jeder demokratische Staat ist dazu aufgerufen, der Ukraine nach Kräften zu helfen. Die Schweiz war ja auch während der beiden Weltkriege neutral, das verstehe ich. Aber hier handelt es sich um eine klare Völkerrechtsverletzung. Und jeder demokratische Staat muss auf der richtigen Seite des Völkerrechts stehen.
Die Schweiz hat die Sanktionen mit Verweis auf die Neutralität erst spät übernommen. Braucht es angesichts dieses Krieges überhaupt neutrale Staaten?
Entweder, man steht auf der Seite des Völkerrechts, oder man steht auf der Seite der Aggression. Jeder demokratische Staat ist aufgerufen, auf der Seite des Rechts zu stehen – unabhängig von der Neutralität.
Ihre Regierung hat dazu aufgerufen, den Westen zu «Deputinisieren». Was meinen Sie damit?
Der Ausdruck soll klarmachen, dass die Anbiederungspolitik gegenüber Russland gescheitert ist. Der Westen ist lange fälschlicherweise davon ausgegangen, dass durch Anbiederung etwas erreicht werden kann und dass der Anbiedernde – also der Westen – dafür von Russland respektiert wird. Das ist eine völlig falsche Vorstellung. Nur Stärke garantieren den Frieden und die Einhaltung des Völkerrechts. Mit guten Worten lässt sich Putin nicht stoppen. Das ist ein Irrweg.
Sie kennen den ukrainischen Präsidenten Selenskyj persönlich. Wie ist das für Sie, zuschauen zu müssen, wie Selenskyj gegen die Grossmachtfantasien Moskaus ankämpft?
Wir haben ein sehr gutes Verhältnis. Erst vor ein paar Monaten habe ich ihn noch getroffen. Er ist eine Kristallisationsfigur der ukrainischen Nation geworden. Er macht seine Aufgabe sehr gut. Durch seine Politik und seine Erscheinung stärkt er ganz besonders den Willen der ukrainischen Nation, sich zu verteidigen.
Kann die Ukraine mit Selenskyj an der Spitze diesen Krieg tatsächlich gewinnen?
Die Ukraine wird nicht aufgeben, solange die russische Besetzung andauert. Das ist ausgeschlossen.
Wenn es zum Äussersten kommt und Putin das Baltikum angreift: Werden Sie dann eine ähnliche Wandlung durchmachen wie Ihr ukrainischer Kollege? Werden Sie dann zum lettischen Selenskyj?
Ich halte einen Angriff für unwahrscheinlich. Aber: Unser Verteidigungskonzept basiert darauf, dass das gesamte Volk seinen Beitrag leistet. Jeder – egal, welches Amt oder welche Position er oder sie hat – wird das Land verteidigen. Das schliesst auch mich als Präsident mit ein.
(aargauerzeitung.ch)
Ausserdem finde ich den Begriff „deputinisieren“ super. Sollten wir dringend angehen.
"Diejenigen, die meinen, es sei schwierig zu sagen, wer recht hat, unterstützen den Aggressor und das kriminelle Regime."