Es war am Tag vor der Machtübernahme der Taliban in Kabul. Der Schweizer Journalist Franz J. Marty, seit 2014 in Afghanistan, schickte eine Whatsapp-Nachricht an Zabiullah Mudschahid. «Muss ich Vorkehrungen treffen?», fragte er den Taliban-Sprecher. «Muss ich mich registrieren? Oder schicken Sie mir eine Sprachnachricht?»
Eine Sprachnachricht per Whatsapp galt als Ausweis für Reisen in Gebiete, die von den Taliban kontrolliert wurden. Die Taliban kommunizieren fast nur über Whatsapp. Doch an jenem 14. August 2021 hatte der Pressesprecher andere Sorgen. Tags darauf besetzten die Taliban den Präsidentenpalast in Kabul und übernahmen die Macht. Aus der afghanischen Republik wurde ein Islamisches Emirat.
Marty (36), der aus Unteriberg (SZ) stammt und in der Schweiz in Schönenberg (ZH) lebt, hätte sich ausfliegen lassen können. Die Schweizer Botschaft in Pakistan hatte ihm einen Platz auf einem Evakuierungsflug angeboten. Er lehnte dankend ab. «Ich sah keine Gefahr für mich», erzählt er. «Zwar ist man als Ausländer nicht garantiert sicher in Afghanistan. Aber die Gefahr ist klein, dass die Taliban einem ausländischen Journalisten etwas antun.»
Marty ist freischaffender Journalist und arbeitet vor allem für angelsächsische Medien wie «The Diplomat» oder «Foreign Policy». Er ist aber auch in Deutschland («Deutsche Welle», ARD, ZDF), Österreich («Die Presse») oder der Schweiz (NZZ, «Weltwoche») zu hören und zu lesen. Daneben arbeitet er für den jungen Schweizer Thinktank Swiss Institute for Global Affairs (Siga).
Auch knapp ein Jahr nach der Taliban-Machtübernahme lebt Marty noch immer in Kabul. Die Tötung von Al-Kaida-Chef Aiman al-Sawahiri durch einen US-Drohnenschlag in Kabul hat Marty in der Schweiz mitbekommen. Er befindet sich zurzeit auf einem vorübergehenden Heimataufenthalt. «Dass es einmal zu einem solchen Schlag kommen wird, war abzusehen», sagt er. «Dass es im Zentrum der Hauptstadt Kabul den Anführer von Al-Kaida trifft, war hingegen überraschend.» Marty hält es aber für «höchst unwahrscheinlich», dass dies das Ende des Terrornetzwerks ist.
Die Taliban hätten den Amerikaner «vage versprochen», dass aus Afghanistan keine Terrorgefahr mehr ausgehen werde, sagt Marty. «Soweit ersichtlich, hatten die Taliban immer im Sinn, dies durch die Kontrolle von nicht-afghanischen Dschihadisten zu bewerkstelligen, die sich in Afghanistan aufhalten.» Dies hätten sie bereits in ihrer ersten Herrschaft vor 2001 versucht. Marty: «Weshalb sie glauben, dass sie mit dieser Taktik dieses Mal mehr Erfolg haben sollten, ist schleierhaft.»
Elf Tage nach der Machtübernahme vom August 2021 luden die Taliban die ausländischen Journalisten in das Ministerium für Information und Kultur ein. Rund 30 Journalistinnen und Journalisten drängten sich in den Raum, darunter Medienschaffende von Al Jazeera, BBC, «New York Times».
Zabiullah Mudschahid war zum stellvertretenden Minister für Information aufgestiegen – zum «Propagandaminister». «Wir wollen eine freie Presse, wir wollen, dass ihr bleibt und berichtet», sagte er – und betonte: «Das soll objektiv geschehen.» Der Begriff «objektiv» fiel so oft, dass den Medienschaffenden klar war: Die Taliban möchten wohlwollende Berichterstattung.
Die Hauptsorge der Medienschaffenden war ein Beglaubigungsschreiben, damit sie sich ausweisen konnten. Der ausländische Presseausweis, wie ihn die Taliban vorschlugen, taugte dafür nicht. «Wir brauchen ein Schreiben mit Taliban-Siegel», meinte ein Journalist. Das kam für die Taliban unerwartet. Sie mussten improvisieren, setzten ein Schreiben auf, das Mudschahid dann unterschrieb und stempelte.
«Die Taliban haben ein grosses Eigeninteresse daran, dass ausländische Journalisten in Afghanistan bleiben», sagt Marty. So könnten sie ihre Botschaften global versenden. Kritischer ist die Situation für inländische Journalisten. Sie müssen sich an strengere Regeln der Taliban halten, dürfen namentlich weder gegen nationale noch islamische Interessen verstossen. Was das genau heisst, weiss niemand.
Deshalb leben inländische Journalisten gefährlich. Das zeigt das Beispiel von Taqi Daryabi und Nemat Naqdi von der Tageszeitung «Etilaat Roz» in Kabul. Sie berichteten im September 2021 über Frauenproteste und wurden im Anschluss von Taliban-Sicherheitskräften auf der Polizeistation in Kabul in separaten Zellen brutal mit Kabeln verprügelt.
#Government sanctioned #torture. I do understand the #Taliban refer to certain matters being illegal without telling us what law governs #Afghanistan right now. Even if Shariah law, where in shariah does it make it ok to torture journalists for doing their jobs? pic.twitter.com/MEirEBU0Wm
— Obaidullah Baheer (@ObaidullaBaheer) September 9, 2021
Den Taliban gelinge es sehr gut, sich in den Köpfen der Menschen festzusetzen, sagt Marty. «Die Leute betreiben dann Selbstzensur.» Etwa die afghanischen Journalisten: Sie berichten kaum mehr über die Leichen, die in der IS-Hochburg Jalalabad in der Provinz Nangarhar gefunden werden – auf der Strasse, an den Bäumen; kopflose Leichen, der Kopf ohne Rumpf.
Oder die Frauen: Sie zogen sich seit der Machtübernahme in vorauseilendem Gehorsam oder aus berechtigter Angst Burkas an. Im Mai 2022 erliessen die Taliban offiziell ein Verschleierungsgebot für Frauen. Es wird von den Taliban - zumindest bisher – nicht strikt durchgesetzt. Das Kopftuch als Minimum ist nach wie vor Pflicht – wie bereits vor der Taliban-Machtübernahme.
Für Marty ist die Bilanz der Taliban knapp ein Jahr nach der Machtübernahme mager. Sie haben das Staatswesen aus der Zeit der Republik integral übernommen. Führungspositionen wurden fast ausschliesslich an Taliban vergeben. Anderes Personal tauschten sie manchmal aus, trotz der Amnestie, die sie für Beamte, Soldaten und Polizisten ausgesprochen haben.
Abgeschafft haben sie das Frauenministerium. Stattdessen installierten sie im selben Gebäude eine Sittenpolizei. Sie wacht darüber, dass in Autos keine Musik gespielt wird und dass Frauen, die Reisen von über 72 Kilometer vornehmen, immer in Begleitung ihres Ehemannes oder eines Mannes aus der Familie sind. «Die Taliban wollen einen autoritären Polizeistaat errichten», sagt Marty. Nur hätten sie keine klaren Ideen, wie sie diese Pläne umsetzen sollen. Schon das erste Taliban-Emirat von 1996 bis 2001 bestand aus einer fünf Jahre langen Übergangsordnung.
Für grosse Teile der 38 Millionen Menschen in Afghanistan hat sich die Situation seit der Machtübernahme verschlechtert. Gemäss UNO-Zahlen litten Ende 2021 bis zu 23 Millionen an Hunger. Inzwischen ist die Situation ein bisschen weniger prekär. «Die Taliban erwähnten nach der Machtübernahme einmal, sie hätten nie versprochen, Versorgung mitzubringen», sagt Marty. «Sie sagten, die Versorgung komme von Gott. Doch mit Vertrauen auf Gott alleine kann man keine Hungersnot abwenden.»
Nicht fehlende Lebensmittel sind für die Not verantwortlich. Die Menschen haben kein Geld. Der Staat als grösster Arbeitgeber ist zusammengebrochen. Viele Regierungsbeamte, Soldaten und Polizisten erhalten keine Löhne mehr. Zudem beschäftigen die Taliban deutlich weniger Menschen als zuvor die Islamische Republik. Wer Arbeit hat, muss mit seinem Lohn zudem oft doppelt so viele Menschen durchbringen wie zuvor, da Familienmitglieder arbeitslos geworden sind.
Als sich Franz J. Marty als freischaffender Journalist nach Afghanistan aufmachte, wusste er nicht, wie lange er bleiben würde. «Ich dachte nicht, dass ich es langfristig in Afghanistan als Journalist schaffe», erzählt er. «Inzwischen sind über sieben Jahre daraus geworden.» Mehrfach in den letzten Jahren überlegte er sich zurückzukehren. Doch dann folgte der Abzug der US-Truppen, der Zusammenbruch der afghanischen Republik und die Machtübernahme der Taliban. «Das ist gerade eine extrem spannende Zeit», sagt Marty.
Dennoch ist eine gewisse Ernüchterung spürbar. Das Leben als freischaffender Journalist ist schwierig. Es dauert oft zwei bis im Extremfall acht Monate, bis ein Artikel publiziert wird. Reich wird er dabei nicht. «Vor allem die ersten Jahre musste ich schauen, dass ich mich über Wasser halten konnte», sagt er. «Ich lebe aber sehr bescheiden.»
Mit seinem langen Bart sieht Marty für Westeuropäer fast wie ein Taliban aus. Afghanen erkennen ihn aber sofort als Ausländer. Dennoch habe man ihm zu einem Bart geraten. Gerade in den Dörfern seien die Menschen freundlicher zu bärtigen Männern. Deshalb trägt er seit 2015 ebenfalls Bart.
Reist er mit Bart, Turban und einheimischer Kleidung im Bus, denken aber viele Afghanen, Marty müsse Einheimischer sein. Nicht weil er wie einer aussieht, sondern weil Ausländer kaum je so reisen. So kommt er an Checkpoints mit dem Satz «Mein Haus ist in Kabul» oft problemlos durch, wenn er gefragt wird, woher er sei.
Acht Tage nach der Machtübernahme der Taliban in Kabul veröffentlichte Marty seinen meist beachteten Tweet. Auf seinem Video vom 22. August 2021 ist zu sehen, wie das Leben in Kabul trotz Taliban-Machtübernahme normal weiterläuft. Der Tweet kam auf zwei Millionen Impressions. Das hatte einen Grund: Es kam zu einer Kontroverse, weil im Video keine Frauen zu sehen waren. «Mea Culpa», sagt Marty heute. Er hätte ein Video mit Frauen auswählen sollen.
While scenes at #Kabul Airport are devastating and should be reported on, it should also not be forgotten that daily life in other parts of the city is surprisingly normal. I filmed this yesterday in the city centre Shahr-i Naw. #Afghanistan pic.twitter.com/Z4mgW1QZKJ
— Franz J. Marty (@franzjmarty) August 22, 2021
Marty ist sehr reflektiert. Er zeigt in seinen Berichten gerne die Normalität. Auch wenn sie weniger Klicks bringt als Konflikte. «Das Chaos ist die Story», sagt er. «Normalität – zum Beispiel der Ladenbesitzer, der seinen Laden trotz Machtwechsels offenhält – verkauft sich nicht gut.» (aargauerzeitung.ch)