Die italienischen Spitäler und Pflegeeinrichtungen entlang des Grenzgürtels zur Schweiz klagen schon lange. Sie haben immer mehr Mühe, geeignetes Pflegepersonal und Ärzte zu rekrutieren. Der Grund ist bekannt: Viele Italienerinnen und Italiener aus Gesundheitsberufen suchen sich möglichst ennet der Grenze, insbesondere im Tessin, eine Stelle.
Dort werden sie gebraucht und verdienen wesentlich besser als in Italien. Sprachprobleme gibt es nicht. Insbesondere Einrichtungen in den italienischen Provinzen Como und Varese, aber auch in Sondrio haben das Nachsehen, da ihnen das Personal für Spitäler, Alters- und Pflegeheime oder Rehakliniken fehlt.
Die italienische Regierung unter Regierungschefin Giorgia Meloni will nun Gegensteuer geben. Und zwar massiv. Im ersten Haushaltsentwurf 2024 ist in Artikel 49 vorgesehen, dass Grenzgängerinnen und Grenzgänger in der Schweiz zwischen 3 und 6 Prozent ihres Nettolohns als Steuer in Italien abführen müssen, um den dortigen nationalen Gesundheitsdienst zu finanzieren. Die jeweiligen Regionen, in denen die Grenzgänger domiziliert sind, wie Piemont und Lombardei, sollen innerhalb der vorgegebenen Spannweite die konkreten Ansätze festlegen.
Mit dem Ertrag sollen Gesundheitseinrichtungen im Grenzraum finanziert werden, die unter der Abwanderung der einheimischen Fachkräfte leiden. Betroffen von dieser Steuer sind ausschliesslich Grenzgänger unter dem alten Grenzgängerregime, die mit einer Quellensteuer in der Schweiz veranlagt werden. Grenzgänger, die unter das neue, am 17. Juli 2023 in Kraft getretene Grenzgängerabkommen zwischen der Schweiz und Italien fallen und ab 2024 auch in Italien steuerpflichtig sind, fallen nicht unter die Neuerung.
Konkret: Für einen Nettolohn von 4000 Franken in der Schweiz müssten bei Anwendung des Maximalsatzes von 6 Prozent neu pro Monat 240 Franken an die Regionen Lombardei oder Piemont abgeführt werden. Die neuen Abgaben der Grenzgänger könnten gemäss italienischen Medien Einnahmen in Höhe von 110 Millionen Euro generieren, die auf die Gesundheitseinrichtungen umgelegt werden. Der Lohn für dortige Pflegekräfte oder Ärzte könnte somit um rund 750 Euro pro Monat erhöht werden, wird in Italien vorgerechnet. Noch aber ist die gesetzliche Neuerung nicht definitiv.
Der Vorschlag für das Manöver kommt von Finanz- und Wirtschaftsminister Giancarlo Giorgetti (Lega), der aus der Nähe von Varese stammt und die Dynamik im Grenzgängerwesen bestens kennt. Festzuhalten gilt, dass italienische Grenzgängerinnen und Grenzgänger, die in der Schweiz tätig sind, sich eigentlich bei einer Schweizer Krankenkasse versichern müssten, aber aufgrund einer geltenden Regelung auch im staatlichen italienischen Gesundheitssystem verbleiben können, wenn sie sich nicht in der Schweiz versichern. Natürliche Personen in Italien zahlen hingegen 21 Prozent ihres Einkommens als Steuer für die Finanzierung des öffentlichen Gesundheitssystems.
Das Grenzgängerbüro der Gewerkschaft OCST hat in einem ersten Moment Verständnis dafür gezeigt, Grenzgänger in die Finanzierung des italienischen Gesundheitssystems einzuspannen. Inzwischen aber hat ein Bündnis von Gewerkschaften die Regierung in Rom aufgefordert, den geplanten Artikel 49 ersatzlos zu streichen.
Kritisiert wird, dass die neue Steuer nicht in Absprache mit den Gewerkschaften erfolgt ist und nicht Teil von Verhandlungen war. In Bezug auf die Höhe der Abgabe sei ein graduelles Vorgehen nötig. Vor allem aber stehe diese Steuer in Widerspruch zum Grenzgängerabkommen für die «alten Grenzgänger», das auf eine Steuererhebung in Italien verzichte. Die Steuerabgabe werde sozusagen durch die Hintertür eingeführt.
Senator Alessandro Alfieri von der Demokratischen Partei (PD) bezeichnete den Vorschlag der Regierung Meloni in der Tageszeitung «La Regione» als «pasticcio» (Durcheinander) und als möglichen Verstoss gegen die Verfassung. Parteikollege Toni Riccardi von der Schweizer PD und Mitglied der italienischen Abgeordnetenkammer nannte die neue Klausel einen «Diebstahl» (scippo), der das Versagen der Lega im Gesundheitssystem kaschieren solle.
Abgesehen davon: Ob dieser Abzug reichen wird, um die Attraktivität des Schweizer Gesundheitssystems für italienische Arbeitnehmer zu schmälern und für das italienische zu erhöhen, muss sich erst beweisen. Fraglos gibt es aber ein Problem. Allein in der Provinzen Como und Varese fehlen rund 400 bis 500 Pflegekräfte und Ärzte. Zwischen 2021 und 2022 wurden an der Università dell'Insubria zirka 500 Pflegekräfte ausgebildet, die dann überwiegend im Kanton Tessin eine Stelle fanden. Den angrenzenden italienischen Provinzen fehlen also nicht nur geeignete Arbeitskräfte, sondern sie bilden auch solche aus, die dann umgehend als Grenzgänger ins Nachbarland «flüchten».
Die Löhne der Grenzgänger in der Gesundheitsbranche unterscheiden sich wegen der geltenden Gesamtarbeitsverträge nicht von den Einheimischen, sind aber allein aufgrund des starken Frankens massiv gestiegen. Vor zehn Jahren musste man für einen Euro noch 1.23 Franken bezahlen, inzwischen nur noch 95 Rappen.
Aber was kümmern uns unsere Probleme von morgen.